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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Die Sprache deö Gedichts war unklar, leidenschaftlich, abgerissen und nicht selten
schwülstig; sie "schmeckte nach dem Schwefel".

Im Gegentheil herrscht in dem zweiten Gedicht, welches denselben Gegenstand
behandelt, Paracelsus (1833), eine gewisse Monotonie der Abstraction, die
der Dichter in der neuen Ausgabe durch Einschiebung von Bildern und Natur¬
anschauungen aufzuheben sucht. Das Gedicht führt den Gegensatz aus zwischen
dem Recht und dem Unrecht einer genialen, dem Gesetz widerstrebenden Indivi¬
dualität. Nur in dem großen Individuum entwickelt sich die wahre Gestalt der
Menschheit, aber sei" Kampf gegen die Masse ist zugleich eine Schuld, denn er
verschwendet seine Kraft an ein für die Menschheit nutzloses Spiel. Die wirkliche
Geschichte des Paracelsus, die sonderbare Mischung vou Genialität und Charla-
tanerie, hat nnr den Anstoß zu der Erfindung gegeben. Die weitere Ausführung
bewegt sich rein im Gebiet der Ideale. Paracelsus ist der Genius, der von der Zeit
nicht verstanden wird, weil er über ihr steht, der aber sich selber fortbildet, indem er
die Einseitigkeit seines Princips erkennt und widerlegt/ Darum zerfällt das Ge¬
dicht in zwei Theile. Der erste behandelt das egoistische Streben nach abstracten
Wissen, der zweite die menschenfreundliche Wirksamkeit. -- Paracelsus hat zuerst
die Wissenschaft der Zeit studirt; er findet überall Wortglauben und Autorität,
nirgend freies Denken und klare Erkenntniß. Der protestantische Geist des
-16. Jahrhunderts regt sich in ihm in einer grenzenlosen Verachtung der Tradition,
des Systems, der Regel, kurz des ganzen katholischen Idealismus, wie ihn das
Mittelalter ausgebildet hatte. Zuerst widerlegt er durch den Skepticismus seiner
Erfahrungen und seines selbstständigen Denkens das gedankenlose Lehrgebäude
der Autorität, und erfreut sich an der neu gewonnenen Freiheit. Aber diese
Ironie wendet sich gegen sein eigenes Gemüth, nud er beschließt nun in der Ferne
nach der Wahrheit zu suchen, ohne Hoffnung und ohne Liebe. Er nimmt in der
^ersten Scene von dem Freunde, bei dem er sich bisher aufgehalten, dem ehrlichen
Pastor Festus und seiner Gemahlin Micheline Abschied, die ihn vergebens von
seiner abenteuerlichen Fahrt zurückzuhalten suchen. Er durchstöbert mit großer
Leidenschaft die orientalischen Mysterien, wird überall getäuscht, und verfällt in
grenzenlose Verzweiflung, bis er endlich in Constantinopel den italienischen Dich¬
ter Aprile findet, der in seinen Armen stirbt, nachdem er ihn vorher über das
Irrige seines bisherigen Strebens aufgeklärt hat. Der Mensch, der mit sich in
Frieden leben wolle, dürfe nicht seinem herrschenden Jnstinct, dem Drang nach
unermeßlichen Wissen nachgehn; seine Aufgabe sei, nicht Fähigkeiten zu erwerben,
sondern Resultate hervorzubringen zum Wohl der Menschheit. Dieser Aprile ist'
eine mystische Person, deren Bedeutung nicht ganz klar wird. Zuweilen sieht es
so aus, als sollte er den Geist des Alterthums repräsentiren, zuweilen erweitert
er sich aber auch zu jener Seite der menschlichen Natur, die im Anfang von
der herrschenden Leidenschaft unterdrückt wird, aber früher oder später durch Lei-


Die Sprache deö Gedichts war unklar, leidenschaftlich, abgerissen und nicht selten
schwülstig; sie „schmeckte nach dem Schwefel".

Im Gegentheil herrscht in dem zweiten Gedicht, welches denselben Gegenstand
behandelt, Paracelsus (1833), eine gewisse Monotonie der Abstraction, die
der Dichter in der neuen Ausgabe durch Einschiebung von Bildern und Natur¬
anschauungen aufzuheben sucht. Das Gedicht führt den Gegensatz aus zwischen
dem Recht und dem Unrecht einer genialen, dem Gesetz widerstrebenden Indivi¬
dualität. Nur in dem großen Individuum entwickelt sich die wahre Gestalt der
Menschheit, aber sei» Kampf gegen die Masse ist zugleich eine Schuld, denn er
verschwendet seine Kraft an ein für die Menschheit nutzloses Spiel. Die wirkliche
Geschichte des Paracelsus, die sonderbare Mischung vou Genialität und Charla-
tanerie, hat nnr den Anstoß zu der Erfindung gegeben. Die weitere Ausführung
bewegt sich rein im Gebiet der Ideale. Paracelsus ist der Genius, der von der Zeit
nicht verstanden wird, weil er über ihr steht, der aber sich selber fortbildet, indem er
die Einseitigkeit seines Princips erkennt und widerlegt/ Darum zerfällt das Ge¬
dicht in zwei Theile. Der erste behandelt das egoistische Streben nach abstracten
Wissen, der zweite die menschenfreundliche Wirksamkeit. — Paracelsus hat zuerst
die Wissenschaft der Zeit studirt; er findet überall Wortglauben und Autorität,
nirgend freies Denken und klare Erkenntniß. Der protestantische Geist des
-16. Jahrhunderts regt sich in ihm in einer grenzenlosen Verachtung der Tradition,
des Systems, der Regel, kurz des ganzen katholischen Idealismus, wie ihn das
Mittelalter ausgebildet hatte. Zuerst widerlegt er durch den Skepticismus seiner
Erfahrungen und seines selbstständigen Denkens das gedankenlose Lehrgebäude
der Autorität, und erfreut sich an der neu gewonnenen Freiheit. Aber diese
Ironie wendet sich gegen sein eigenes Gemüth, nud er beschließt nun in der Ferne
nach der Wahrheit zu suchen, ohne Hoffnung und ohne Liebe. Er nimmt in der
^ersten Scene von dem Freunde, bei dem er sich bisher aufgehalten, dem ehrlichen
Pastor Festus und seiner Gemahlin Micheline Abschied, die ihn vergebens von
seiner abenteuerlichen Fahrt zurückzuhalten suchen. Er durchstöbert mit großer
Leidenschaft die orientalischen Mysterien, wird überall getäuscht, und verfällt in
grenzenlose Verzweiflung, bis er endlich in Constantinopel den italienischen Dich¬
ter Aprile findet, der in seinen Armen stirbt, nachdem er ihn vorher über das
Irrige seines bisherigen Strebens aufgeklärt hat. Der Mensch, der mit sich in
Frieden leben wolle, dürfe nicht seinem herrschenden Jnstinct, dem Drang nach
unermeßlichen Wissen nachgehn; seine Aufgabe sei, nicht Fähigkeiten zu erwerben,
sondern Resultate hervorzubringen zum Wohl der Menschheit. Dieser Aprile ist'
eine mystische Person, deren Bedeutung nicht ganz klar wird. Zuweilen sieht es
so aus, als sollte er den Geist des Alterthums repräsentiren, zuweilen erweitert
er sich aber auch zu jener Seite der menschlichen Natur, die im Anfang von
der herrschenden Leidenschaft unterdrückt wird, aber früher oder später durch Lei-


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[0390] Die Sprache deö Gedichts war unklar, leidenschaftlich, abgerissen und nicht selten schwülstig; sie „schmeckte nach dem Schwefel". Im Gegentheil herrscht in dem zweiten Gedicht, welches denselben Gegenstand behandelt, Paracelsus (1833), eine gewisse Monotonie der Abstraction, die der Dichter in der neuen Ausgabe durch Einschiebung von Bildern und Natur¬ anschauungen aufzuheben sucht. Das Gedicht führt den Gegensatz aus zwischen dem Recht und dem Unrecht einer genialen, dem Gesetz widerstrebenden Indivi¬ dualität. Nur in dem großen Individuum entwickelt sich die wahre Gestalt der Menschheit, aber sei» Kampf gegen die Masse ist zugleich eine Schuld, denn er verschwendet seine Kraft an ein für die Menschheit nutzloses Spiel. Die wirkliche Geschichte des Paracelsus, die sonderbare Mischung vou Genialität und Charla- tanerie, hat nnr den Anstoß zu der Erfindung gegeben. Die weitere Ausführung bewegt sich rein im Gebiet der Ideale. Paracelsus ist der Genius, der von der Zeit nicht verstanden wird, weil er über ihr steht, der aber sich selber fortbildet, indem er die Einseitigkeit seines Princips erkennt und widerlegt/ Darum zerfällt das Ge¬ dicht in zwei Theile. Der erste behandelt das egoistische Streben nach abstracten Wissen, der zweite die menschenfreundliche Wirksamkeit. — Paracelsus hat zuerst die Wissenschaft der Zeit studirt; er findet überall Wortglauben und Autorität, nirgend freies Denken und klare Erkenntniß. Der protestantische Geist des -16. Jahrhunderts regt sich in ihm in einer grenzenlosen Verachtung der Tradition, des Systems, der Regel, kurz des ganzen katholischen Idealismus, wie ihn das Mittelalter ausgebildet hatte. Zuerst widerlegt er durch den Skepticismus seiner Erfahrungen und seines selbstständigen Denkens das gedankenlose Lehrgebäude der Autorität, und erfreut sich an der neu gewonnenen Freiheit. Aber diese Ironie wendet sich gegen sein eigenes Gemüth, nud er beschließt nun in der Ferne nach der Wahrheit zu suchen, ohne Hoffnung und ohne Liebe. Er nimmt in der ^ersten Scene von dem Freunde, bei dem er sich bisher aufgehalten, dem ehrlichen Pastor Festus und seiner Gemahlin Micheline Abschied, die ihn vergebens von seiner abenteuerlichen Fahrt zurückzuhalten suchen. Er durchstöbert mit großer Leidenschaft die orientalischen Mysterien, wird überall getäuscht, und verfällt in grenzenlose Verzweiflung, bis er endlich in Constantinopel den italienischen Dich¬ ter Aprile findet, der in seinen Armen stirbt, nachdem er ihn vorher über das Irrige seines bisherigen Strebens aufgeklärt hat. Der Mensch, der mit sich in Frieden leben wolle, dürfe nicht seinem herrschenden Jnstinct, dem Drang nach unermeßlichen Wissen nachgehn; seine Aufgabe sei, nicht Fähigkeiten zu erwerben, sondern Resultate hervorzubringen zum Wohl der Menschheit. Dieser Aprile ist' eine mystische Person, deren Bedeutung nicht ganz klar wird. Zuweilen sieht es so aus, als sollte er den Geist des Alterthums repräsentiren, zuweilen erweitert er sich aber auch zu jener Seite der menschlichen Natur, die im Anfang von der herrschenden Leidenschaft unterdrückt wird, aber früher oder später durch Lei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/390>, abgerufen am 24.07.2024.