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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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vorwärts, und zogen sich schweigend zurück in die dunklen Kojen. Wenige nnr
blieben eins dem Deck. Auch ich stieg hinab und mit mir Mr. S., aber wir
Beide nicht ans dem Beweggrunde, welcher die Uebrigen hinunter getrieben hatte:
diese fühlten eine unwiderstehliche Schwäche, sie konnten sich nicht aufrecht erhal¬
ten, und erwarteten,um, auf die Matratzen hingestreckt, neben sich die unaus¬
sprechlichen Geschirre, ihr Schicksal; uns Beide spornte ein entgegengesetztes
Gefühl an, unsren Gefährten zu folgen, das Bewußtsein der noch ungeschwächten
Kraft und der Drang, mit dieser Kraft unsren Freunden beizustehen. Da lagen
sie nun, und ächzten und stöhnten; einige saßen niedergebeugt auf ihren Kisten,
und neben ihnen Mr. S. und ich, mit der einen Hand den Kopf der Kranken
unterstützend, in der andern Hand ein Stück Brod und Schinken, um unsre eige¬
nen Kräfte wach zu erhalten. So war schon nach einer Stunde aller Ekel ver¬
schwunden. "Lassen Sie mich, helfen Sie meiner armen Schwester!" lispelte mit
schwacher Stimme eine der Ladies; augenblicklich war ich beschäftigt, ihr ein
möglichst bequemes Lager zu bereite"; daun eilte ich nach der bezeichneten Scene
des Leidens. "Vater -- Mutter, gieb mir ein Butterbrod!" rief eiues der Kin¬
der, welche frisch und munter in ihren Kojen lagen und nur durch das Schaukeln
des Schiffes gezwungen waren, sich liegend zu erhalten; aber der Vater blieb
stumm -- er war ja so schwach, so gleichgiltig gegen Alles, was um ihn herum
geschah, daß er nicht einmal die Stimme seiner Kinder hörte -- und die Mutter
seufzte: "Ach! ich kaun ja nicht! ach! Herr --"; "Mr. Mr. S., nur einen
Schluck Wasser!" Allen Bitten auf einmal zu genügen, war weder Mr. S., noch
mir Möglich; aber einem nach dem andern wurde geholfen, so daß uns immer
noch Zeit genug übrig blieb, um abwechselnd aus das Deck zu steigen und nus
durch die reine frische Seeluft zu stärken, "llmv are ^zur nov, M. --"seasiok?"
rief mir dann wol der Capitain zu; " ,'Flr8t-rg,t<z, oaMin!"" "'I vlU noms
tu<1 l>^, Sirl" ",,l edirt Qvt, eaMmI"" Und ich hatte Recht: Seekrankheit
kam nicht zu mir, vielmehr hatte ich noch Wochen lang Veranlassung, fröhlich und
wohlgemut!) zu sein, daß mir das Geschick Gelegenheit und Kraft gegeben hatte,
mich meinen Reisegefährten nützlich zu zeigen. Diese heitere Stimmung und
die fortwährende Anregung von Seiten der Kranken trugen jedenfalls dazu bei,
mich gegen die Anfälle dieser ekelhaften, aber durchaus nicht gefährlichen Krank¬
heit zu schützen.

' Aber trotzdem, daß ich meinem Körper nur wenig Ruhe gönnte, muß ich,
doch bekennen, daß ich nur eine untergeordnete Rolle spielte; die erste Stelle
wies Mr. S. sein Humor und seine Erfahrung an. S. unterstützte nach Leibes¬
kräften, spielte den Arzt, und las einem wirklichen Arzte, der als Passagier mit
uns fuhr, die Moral wegen seiner Trägheit und Ungenügsamkeit in einer Weise,
wie ich sie von der Kanzel noch nie habe predigen hören. Dabei bedauerte er
aber keinen Kranken, fondern ließ in Einem fort einen Zug von Witzen und


Grenzboteli. II. 47

vorwärts, und zogen sich schweigend zurück in die dunklen Kojen. Wenige nnr
blieben eins dem Deck. Auch ich stieg hinab und mit mir Mr. S., aber wir
Beide nicht ans dem Beweggrunde, welcher die Uebrigen hinunter getrieben hatte:
diese fühlten eine unwiderstehliche Schwäche, sie konnten sich nicht aufrecht erhal¬
ten, und erwarteten,um, auf die Matratzen hingestreckt, neben sich die unaus¬
sprechlichen Geschirre, ihr Schicksal; uns Beide spornte ein entgegengesetztes
Gefühl an, unsren Gefährten zu folgen, das Bewußtsein der noch ungeschwächten
Kraft und der Drang, mit dieser Kraft unsren Freunden beizustehen. Da lagen
sie nun, und ächzten und stöhnten; einige saßen niedergebeugt auf ihren Kisten,
und neben ihnen Mr. S. und ich, mit der einen Hand den Kopf der Kranken
unterstützend, in der andern Hand ein Stück Brod und Schinken, um unsre eige¬
nen Kräfte wach zu erhalten. So war schon nach einer Stunde aller Ekel ver¬
schwunden. „Lassen Sie mich, helfen Sie meiner armen Schwester!" lispelte mit
schwacher Stimme eine der Ladies; augenblicklich war ich beschäftigt, ihr ein
möglichst bequemes Lager zu bereite»; daun eilte ich nach der bezeichneten Scene
des Leidens. „Vater — Mutter, gieb mir ein Butterbrod!" rief eiues der Kin¬
der, welche frisch und munter in ihren Kojen lagen und nur durch das Schaukeln
des Schiffes gezwungen waren, sich liegend zu erhalten; aber der Vater blieb
stumm — er war ja so schwach, so gleichgiltig gegen Alles, was um ihn herum
geschah, daß er nicht einmal die Stimme seiner Kinder hörte — und die Mutter
seufzte: „Ach! ich kaun ja nicht! ach! Herr —"; „Mr. Mr. S., nur einen
Schluck Wasser!" Allen Bitten auf einmal zu genügen, war weder Mr. S., noch
mir Möglich; aber einem nach dem andern wurde geholfen, so daß uns immer
noch Zeit genug übrig blieb, um abwechselnd aus das Deck zu steigen und nus
durch die reine frische Seeluft zu stärken, „llmv are ^zur nov, M. —„seasiok?"
rief mir dann wol der Capitain zu; „ ,'Flr8t-rg,t<z, oaMin!"" „'I vlU noms
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kam nicht zu mir, vielmehr hatte ich noch Wochen lang Veranlassung, fröhlich und
wohlgemut!) zu sein, daß mir das Geschick Gelegenheit und Kraft gegeben hatte,
mich meinen Reisegefährten nützlich zu zeigen. Diese heitere Stimmung und
die fortwährende Anregung von Seiten der Kranken trugen jedenfalls dazu bei,
mich gegen die Anfälle dieser ekelhaften, aber durchaus nicht gefährlichen Krank¬
heit zu schützen.

' Aber trotzdem, daß ich meinem Körper nur wenig Ruhe gönnte, muß ich,
doch bekennen, daß ich nur eine untergeordnete Rolle spielte; die erste Stelle
wies Mr. S. sein Humor und seine Erfahrung an. S. unterstützte nach Leibes¬
kräften, spielte den Arzt, und las einem wirklichen Arzte, der als Passagier mit
uns fuhr, die Moral wegen seiner Trägheit und Ungenügsamkeit in einer Weise,
wie ich sie von der Kanzel noch nie habe predigen hören. Dabei bedauerte er
aber keinen Kranken, fondern ließ in Einem fort einen Zug von Witzen und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/381>, abgerufen am 24.07.2024.