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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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man der Neigung, die durch die ihr gesetzten Schranken zu immer größerer
Heftigkeit getrieben wird, die daraus entspringende vollständige Verwandlung
ihres Gemüths nach allen Seiten hin, der Kampf zwischen Furcht und Neigung
bei dem ersten Besuche Leander's und die grenzenlose Verzweiflung bei dem Tode
desselben, das Alles ist mit unnachahmlicher Feinheit und Grazie wiedergegeben.
Ueberall bestrebt sich Grillparzer auf das Ernsthafteste, die Bewegungen der Seele
im Detail nachzuempfinden. Grillparzer begeht den Fehler, in den auch Kleist
zuweilen verfällt, die stärksten Gemüthsansbrüche zurückzuhalten und in einzelnen
Ausrufungen, deuen dadurch ein zu großes Gewicht beigelegt wird, die Bewe¬
gung der Seele mehr anzudeuten als auszudrücken. Das ist zwar der Wirklichkeit
angemessen, aber in der Poesie nur mit großer Vorsicht anzuwenden. Wir verlangen
von der Poesie das klare Wort; Mimik und Geberde darf nnr als Unterstützung
desselben beuutzt werde". Aber dieser Uebelstand ist wenigstens einigermaßen dnrch
die sehr poetisch festgehaltene Stimmung ausgeglichen. Auch die Züge, in denen
Leander seine leidenschaftliche Natur an den Tag legt, sind gut erfunden. Am
schwächsten ist der alte Priester, der sich für die Zustande, an welche wir des
Verständnisses wegen glauben müssen, ,gar zu human und rationalistisch gebährt.
Das allergrößte Lob verdient der sinnliche Ausdruck der Zustände. Das Costum
ist nur ganz allgemein angedeutet, so weit es zur Handlung gehört, aber sehr
klar und übersichtlich disponirt, nirgend opernhaft und doch von entschiedenem Ein¬
druck ans die Sinne. Die Nacht, in welcher Leander den Thurm besteigt, ist
mit der Spannung, die aus der Furcht vor eiuer Ueberraschung hervorgeht, so
individuell und lebendig geschildert, daß wir darüber ganz vergessen, wie die
Handlung selbst zu einfach ist, um nach den gewöhnlichen Begriffen vom Theater
unsre Spannung zu erregen. In dieser Beziehung kann das Stück unsren
jungen Dramatikern als Muster vorgehalten werden. Wir theilen als Probe die
Schilderung mit, welche am folgenden Morgen der Tempelhüter von dieser. Nacht
giebt, und die durchaus nicht plastischer und anschaulicher ist, als die wirkliche
Ausführung im vorhergehenden Acte:


Und oben war'S so laut und doch so heimlich,

Ein Flüstern, und ein Rauschen hier und dort.

Die ganze Gegend schien erwacht, bewegt,

Im dichtsten Laub ein sonderbares Regen

Wie Windeswchn, und wehte doch kein Wind;

Die Lust gab Schall, der Boden tönte wieder,

Und was getönt und wiederklang, war Nichts.

Das Meer stieg rauschend höher an das Ufer,

Die Sterne blinkten wie mit Augenwinken,

Ein halb enthüllt Geheimniß schien die Nacht,

Und dieser Thurm war all des dumpfen Treibens

Und leisen Regens Mittelpunkt und Ziel.


man der Neigung, die durch die ihr gesetzten Schranken zu immer größerer
Heftigkeit getrieben wird, die daraus entspringende vollständige Verwandlung
ihres Gemüths nach allen Seiten hin, der Kampf zwischen Furcht und Neigung
bei dem ersten Besuche Leander's und die grenzenlose Verzweiflung bei dem Tode
desselben, das Alles ist mit unnachahmlicher Feinheit und Grazie wiedergegeben.
Ueberall bestrebt sich Grillparzer auf das Ernsthafteste, die Bewegungen der Seele
im Detail nachzuempfinden. Grillparzer begeht den Fehler, in den auch Kleist
zuweilen verfällt, die stärksten Gemüthsansbrüche zurückzuhalten und in einzelnen
Ausrufungen, deuen dadurch ein zu großes Gewicht beigelegt wird, die Bewe¬
gung der Seele mehr anzudeuten als auszudrücken. Das ist zwar der Wirklichkeit
angemessen, aber in der Poesie nur mit großer Vorsicht anzuwenden. Wir verlangen
von der Poesie das klare Wort; Mimik und Geberde darf nnr als Unterstützung
desselben beuutzt werde». Aber dieser Uebelstand ist wenigstens einigermaßen dnrch
die sehr poetisch festgehaltene Stimmung ausgeglichen. Auch die Züge, in denen
Leander seine leidenschaftliche Natur an den Tag legt, sind gut erfunden. Am
schwächsten ist der alte Priester, der sich für die Zustande, an welche wir des
Verständnisses wegen glauben müssen, ,gar zu human und rationalistisch gebährt.
Das allergrößte Lob verdient der sinnliche Ausdruck der Zustände. Das Costum
ist nur ganz allgemein angedeutet, so weit es zur Handlung gehört, aber sehr
klar und übersichtlich disponirt, nirgend opernhaft und doch von entschiedenem Ein¬
druck ans die Sinne. Die Nacht, in welcher Leander den Thurm besteigt, ist
mit der Spannung, die aus der Furcht vor eiuer Ueberraschung hervorgeht, so
individuell und lebendig geschildert, daß wir darüber ganz vergessen, wie die
Handlung selbst zu einfach ist, um nach den gewöhnlichen Begriffen vom Theater
unsre Spannung zu erregen. In dieser Beziehung kann das Stück unsren
jungen Dramatikern als Muster vorgehalten werden. Wir theilen als Probe die
Schilderung mit, welche am folgenden Morgen der Tempelhüter von dieser. Nacht
giebt, und die durchaus nicht plastischer und anschaulicher ist, als die wirkliche
Ausführung im vorhergehenden Acte:


Und oben war'S so laut und doch so heimlich,

Ein Flüstern, und ein Rauschen hier und dort.

Die ganze Gegend schien erwacht, bewegt,

Im dichtsten Laub ein sonderbares Regen

Wie Windeswchn, und wehte doch kein Wind;

Die Lust gab Schall, der Boden tönte wieder,

Und was getönt und wiederklang, war Nichts.

Das Meer stieg rauschend höher an das Ufer,

Die Sterne blinkten wie mit Augenwinken,

Ein halb enthüllt Geheimniß schien die Nacht,

Und dieser Thurm war all des dumpfen Treibens

Und leisen Regens Mittelpunkt und Ziel.


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[0352] man der Neigung, die durch die ihr gesetzten Schranken zu immer größerer Heftigkeit getrieben wird, die daraus entspringende vollständige Verwandlung ihres Gemüths nach allen Seiten hin, der Kampf zwischen Furcht und Neigung bei dem ersten Besuche Leander's und die grenzenlose Verzweiflung bei dem Tode desselben, das Alles ist mit unnachahmlicher Feinheit und Grazie wiedergegeben. Ueberall bestrebt sich Grillparzer auf das Ernsthafteste, die Bewegungen der Seele im Detail nachzuempfinden. Grillparzer begeht den Fehler, in den auch Kleist zuweilen verfällt, die stärksten Gemüthsansbrüche zurückzuhalten und in einzelnen Ausrufungen, deuen dadurch ein zu großes Gewicht beigelegt wird, die Bewe¬ gung der Seele mehr anzudeuten als auszudrücken. Das ist zwar der Wirklichkeit angemessen, aber in der Poesie nur mit großer Vorsicht anzuwenden. Wir verlangen von der Poesie das klare Wort; Mimik und Geberde darf nnr als Unterstützung desselben beuutzt werde». Aber dieser Uebelstand ist wenigstens einigermaßen dnrch die sehr poetisch festgehaltene Stimmung ausgeglichen. Auch die Züge, in denen Leander seine leidenschaftliche Natur an den Tag legt, sind gut erfunden. Am schwächsten ist der alte Priester, der sich für die Zustande, an welche wir des Verständnisses wegen glauben müssen, ,gar zu human und rationalistisch gebährt. Das allergrößte Lob verdient der sinnliche Ausdruck der Zustände. Das Costum ist nur ganz allgemein angedeutet, so weit es zur Handlung gehört, aber sehr klar und übersichtlich disponirt, nirgend opernhaft und doch von entschiedenem Ein¬ druck ans die Sinne. Die Nacht, in welcher Leander den Thurm besteigt, ist mit der Spannung, die aus der Furcht vor eiuer Ueberraschung hervorgeht, so individuell und lebendig geschildert, daß wir darüber ganz vergessen, wie die Handlung selbst zu einfach ist, um nach den gewöhnlichen Begriffen vom Theater unsre Spannung zu erregen. In dieser Beziehung kann das Stück unsren jungen Dramatikern als Muster vorgehalten werden. Wir theilen als Probe die Schilderung mit, welche am folgenden Morgen der Tempelhüter von dieser. Nacht giebt, und die durchaus nicht plastischer und anschaulicher ist, als die wirkliche Ausführung im vorhergehenden Acte: Und oben war'S so laut und doch so heimlich, Ein Flüstern, und ein Rauschen hier und dort. Die ganze Gegend schien erwacht, bewegt, Im dichtsten Laub ein sonderbares Regen Wie Windeswchn, und wehte doch kein Wind; Die Lust gab Schall, der Boden tönte wieder, Und was getönt und wiederklang, war Nichts. Das Meer stieg rauschend höher an das Ufer, Die Sterne blinkten wie mit Augenwinken, Ein halb enthüllt Geheimniß schien die Nacht, Und dieser Thurm war all des dumpfen Treibens Und leisen Regens Mittelpunkt und Ziel.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/352>, abgerufen am 24.07.2024.