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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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den Schluß der Wahlverwandschasten. Der Conflict, der dieser Katastrophe zu
Grunde liegt, ist mit dem klarsten Verstand und der liebevollsten Anschaulichkeit
angelegt; wie es nnn aber zur Lösung kommt, werden wir plötzlich in ein Gebiet
hineingeschleudert, in dem wir uicht klar sehen, wo wir den Weg, den uns der
Dichter fuhrt, nicht mehr controliren können. Die Zustände, in welche Ottilie
durch das Bewußtsein von der Unlösbarkeit des Conflicts versetzt wird, sind so
eigenthümlicher Natur, und werden dabei so deutlich und ausführlich ge¬
schildert, daß wir in Verwirrung gerathen; sie sind so individuell und der ge¬
wöhnlichen Vorstellung widerstrebend, daß wir sie uns nicht zu deuten vermögen,
und -doch stellt sich uns der Charakter als ein Ideal dar und stellt an uns die
Anforderung, wir sollen ihn als nothwendig empfinden.

Ganz ähnlich, mir weniger ausgeführt, ist die Partie von Mignon und
dem Harfenspieler, im Wilhelm Meister, die daher Novalis als das einzige
Poetische an diesem Werk betrachtete. . In den Wanderjahren, im zweiten Theile
des Faust gehört fast Alles in dieselbe Kategorie, so weit überhaupt von concreter,
charakteristischer, individueller Ausführung die Rede ist, denn das Allegorische ist
wieder etwas Anderes. Makarie, die sich in ihrem innern Seelenleben als Mond
um einen Planeten dreht, ist nur die sinnlichere Durchführung des Problems der
Ottilie. In "Wahrheit und Dichtung" wie in den Eckermann'schen Gesprächen
, kommt Goethe fortwährend auf den Begriff des Dämonischen zurück. Einzelne
Seiten dieses Begriffs sind zwar sehr verständlich, z. B. die Uebergewalt der
Natur über die Regel, ferner die Mystik des Zufalls,- in der man ein Gesetz
ahnt, obgleich sich der Verstand gegen die Möglichkeit eines solchen Gesetzes
sträubt, u. s. w.; aber außer diesen deutlichen Begriffsstimmungen liegt noch Et¬
was darin, was er sich selber nicht ganz klar gemacht zu haben scheint, und was
uns daher gleichfalls unklar beide. Das ist noch etwas ganz Anderes, als die
wunderbare übernatürliche Welt, die man sonst als nothwendige Maschinerie
eines dichterischen'Werkes betrachtete; denn wir können uns außer der sinnlichen
Welt, die nus umgiebt, und deren Gesetze wir erkennen, durch die Phantasie
eine andere schaffen, die zwar viele Analogien mit jener gemein.hat, in wesent¬
lichen Punkten aber davon abweicht. Die Kunst des Dichters beruht dann nur
darauf, unsren raisonirenden Verstand so einzuschläfern, daß er mit seinen Regeln
keine Einwendungen macht, und daß wir also künstlich in die naive Zeit der
mythenbildenden Substanz zurückversetzt werden, welche durch die Regel nicht ge¬
hindert wurde, weil sie sie noch gar nicht kannte. Unter dieser Voraussetzung
kann uns die sogenannte übersinnliche Welt in der bildenden Kunst wie in der
Poesie als eine ganz harmonische, concrete und faßliche dargestellt werden. Das
Dämonische des Gemüths dagegen, in welches uns die neueste Dichtung einführt,
erträgt diese Faßlichkeit nicht, weil in ihm Alles Nacht ist, und weil die Poesie
noch nicht gelernt hat, "leuchtende Finsterniß" vorstellig zu machen.


den Schluß der Wahlverwandschasten. Der Conflict, der dieser Katastrophe zu
Grunde liegt, ist mit dem klarsten Verstand und der liebevollsten Anschaulichkeit
angelegt; wie es nnn aber zur Lösung kommt, werden wir plötzlich in ein Gebiet
hineingeschleudert, in dem wir uicht klar sehen, wo wir den Weg, den uns der
Dichter fuhrt, nicht mehr controliren können. Die Zustände, in welche Ottilie
durch das Bewußtsein von der Unlösbarkeit des Conflicts versetzt wird, sind so
eigenthümlicher Natur, und werden dabei so deutlich und ausführlich ge¬
schildert, daß wir in Verwirrung gerathen; sie sind so individuell und der ge¬
wöhnlichen Vorstellung widerstrebend, daß wir sie uns nicht zu deuten vermögen,
und -doch stellt sich uns der Charakter als ein Ideal dar und stellt an uns die
Anforderung, wir sollen ihn als nothwendig empfinden.

Ganz ähnlich, mir weniger ausgeführt, ist die Partie von Mignon und
dem Harfenspieler, im Wilhelm Meister, die daher Novalis als das einzige
Poetische an diesem Werk betrachtete. . In den Wanderjahren, im zweiten Theile
des Faust gehört fast Alles in dieselbe Kategorie, so weit überhaupt von concreter,
charakteristischer, individueller Ausführung die Rede ist, denn das Allegorische ist
wieder etwas Anderes. Makarie, die sich in ihrem innern Seelenleben als Mond
um einen Planeten dreht, ist nur die sinnlichere Durchführung des Problems der
Ottilie. In „Wahrheit und Dichtung" wie in den Eckermann'schen Gesprächen
, kommt Goethe fortwährend auf den Begriff des Dämonischen zurück. Einzelne
Seiten dieses Begriffs sind zwar sehr verständlich, z. B. die Uebergewalt der
Natur über die Regel, ferner die Mystik des Zufalls,- in der man ein Gesetz
ahnt, obgleich sich der Verstand gegen die Möglichkeit eines solchen Gesetzes
sträubt, u. s. w.; aber außer diesen deutlichen Begriffsstimmungen liegt noch Et¬
was darin, was er sich selber nicht ganz klar gemacht zu haben scheint, und was
uns daher gleichfalls unklar beide. Das ist noch etwas ganz Anderes, als die
wunderbare übernatürliche Welt, die man sonst als nothwendige Maschinerie
eines dichterischen'Werkes betrachtete; denn wir können uns außer der sinnlichen
Welt, die nus umgiebt, und deren Gesetze wir erkennen, durch die Phantasie
eine andere schaffen, die zwar viele Analogien mit jener gemein.hat, in wesent¬
lichen Punkten aber davon abweicht. Die Kunst des Dichters beruht dann nur
darauf, unsren raisonirenden Verstand so einzuschläfern, daß er mit seinen Regeln
keine Einwendungen macht, und daß wir also künstlich in die naive Zeit der
mythenbildenden Substanz zurückversetzt werden, welche durch die Regel nicht ge¬
hindert wurde, weil sie sie noch gar nicht kannte. Unter dieser Voraussetzung
kann uns die sogenannte übersinnliche Welt in der bildenden Kunst wie in der
Poesie als eine ganz harmonische, concrete und faßliche dargestellt werden. Das
Dämonische des Gemüths dagegen, in welches uns die neueste Dichtung einführt,
erträgt diese Faßlichkeit nicht, weil in ihm Alles Nacht ist, und weil die Poesie
noch nicht gelernt hat, „leuchtende Finsterniß" vorstellig zu machen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/312>, abgerufen am 25.07.2024.