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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Damit ist keineswegs blos das Hereinziehen jener Zustände gemeint, in
denen das Licht des Verstandes den Menschen überhaupt verläßt. Wir erinnern
z. B. an die Darstellung des Wahnsinns im Lear. Die Entstehung des Wahn¬
sinns ist für das Gefühl und den Verstand vollständig motivirt, und die Er¬
scheinung desselben wird nur so weit ausgeführt, als. der Nachklang des alten
Geistes sich noch für uns vernehmlich machen kann. Der wahnsinnige Lear ist
unfähig, seine Gedanken und Empfindungen zusammenzunehmen und sie ans die
jedesmalige Situation zu beziehen, aber was wir von ihnen sehen, bezieht sich
auf den bestimmten Kreis von Gedanken und Empfindungen, die wir vorhin schon
als vollkommen berechtigt verstanden haben. Bei der modernen Darstellung des
Wahnsinns dagegen begnügen sich die Dichter nicht mit diesem Nest ans der
Zeit des Verstandes, sie bilden sich vielmehr ihr eigenes, der normalen Denk¬
weise des Charakters entweder entgegengesetztes, oder, was noch schlimmer ist,
mit ihr ganz und gar nicht zusammenhängendes Gesetz, und verlangen nun von
uns, wir sollen uns in dieses hineindenken, obgleich uns jeder Maßstab fehlt, es
zu prüfen. Wir werden gezwungen, in dem, was uus sonst als das Nächste und
Bekannteste erscheint, eine uns vollkommen fremde, dämonische und unheimliche
Macht zu ahnen und zu fürchten.

Der "Maler Rollen" ist der glänzendste Versuch in dieser Richtung. Er hat
vor andern ähnlichen Versuchen den großen Vorzug, daß die irrationelle Welt sich
nicht zufällig erst hineindrängt, sondern durch die ganze Anlage der Handlung
vorbereitet wird. Diese Anlage ist folgende. Ein naives und unbefangenes
Mädchen, Agnes, ist mit dem genialen Maler Rotten verlobt. Eine geheimni߬
volle Zigeunerin, die in einem gewissen Verhältniß zu dem Letztern steht, weiß
ihr einzureden, daß aus der Sache Nichts werden kann, weil der Bräutigam, sie
als seiner nicht ganz werth betrachtet. Es gelingt ihr das um so leichter, da
etwas Wahres daran ist. Agnes wird dadurch in ihrem Gefühl verwirrt, sie wirft
sich mit einer gewissen Hastigkeit in ein anderes Verhältniß hinein, und täuscht da¬
durch nicht nur die Anderen, sondern auch sich selbst so weit, daß sie sich und uns
ein Räthsel ist. Rollen, wie es Männer in ähnlichen Fällen zu thun pflegen,
benutzt diese Wendung, um gleichfalls ein anderes Verhältniß mit einer geist¬
reichen Gräfin Constanze anzuknüpfen. Das scheint aber seinem Freunde, dem
Schauspieler Larkens, unsittlich. Er benutzt also seine Fertigkeit, fremde Hand¬
schriften nachzumachen, dazu, im Namen seines Freundes an Agnes zu schreiben,
und die Sache wieder auszugleichen. Die Korrespondenz geht ein Jahr lang fort,
ohne daß Rollen Etwas davon erfährt. Jetzt erfolgt die erste Katastrophe; Lar¬
kens verschwindet, nachdem er vorher seinen Freund mit dem Geheimniß bekannt
gemacht. Rollen kehrt in Folge dessen zu Agnes zurück, die er aus den Briefen
schätzen gelernt; Constanze wird unglücklich, Larkens tobtet sich selbst, vielleicht aus
heimlicher Liebe zu Agnes, vielleicht aber auch aus anderen Gründen. Zweite


Damit ist keineswegs blos das Hereinziehen jener Zustände gemeint, in
denen das Licht des Verstandes den Menschen überhaupt verläßt. Wir erinnern
z. B. an die Darstellung des Wahnsinns im Lear. Die Entstehung des Wahn¬
sinns ist für das Gefühl und den Verstand vollständig motivirt, und die Er¬
scheinung desselben wird nur so weit ausgeführt, als. der Nachklang des alten
Geistes sich noch für uns vernehmlich machen kann. Der wahnsinnige Lear ist
unfähig, seine Gedanken und Empfindungen zusammenzunehmen und sie ans die
jedesmalige Situation zu beziehen, aber was wir von ihnen sehen, bezieht sich
auf den bestimmten Kreis von Gedanken und Empfindungen, die wir vorhin schon
als vollkommen berechtigt verstanden haben. Bei der modernen Darstellung des
Wahnsinns dagegen begnügen sich die Dichter nicht mit diesem Nest ans der
Zeit des Verstandes, sie bilden sich vielmehr ihr eigenes, der normalen Denk¬
weise des Charakters entweder entgegengesetztes, oder, was noch schlimmer ist,
mit ihr ganz und gar nicht zusammenhängendes Gesetz, und verlangen nun von
uns, wir sollen uns in dieses hineindenken, obgleich uns jeder Maßstab fehlt, es
zu prüfen. Wir werden gezwungen, in dem, was uus sonst als das Nächste und
Bekannteste erscheint, eine uns vollkommen fremde, dämonische und unheimliche
Macht zu ahnen und zu fürchten.

Der „Maler Rollen" ist der glänzendste Versuch in dieser Richtung. Er hat
vor andern ähnlichen Versuchen den großen Vorzug, daß die irrationelle Welt sich
nicht zufällig erst hineindrängt, sondern durch die ganze Anlage der Handlung
vorbereitet wird. Diese Anlage ist folgende. Ein naives und unbefangenes
Mädchen, Agnes, ist mit dem genialen Maler Rotten verlobt. Eine geheimni߬
volle Zigeunerin, die in einem gewissen Verhältniß zu dem Letztern steht, weiß
ihr einzureden, daß aus der Sache Nichts werden kann, weil der Bräutigam, sie
als seiner nicht ganz werth betrachtet. Es gelingt ihr das um so leichter, da
etwas Wahres daran ist. Agnes wird dadurch in ihrem Gefühl verwirrt, sie wirft
sich mit einer gewissen Hastigkeit in ein anderes Verhältniß hinein, und täuscht da¬
durch nicht nur die Anderen, sondern auch sich selbst so weit, daß sie sich und uns
ein Räthsel ist. Rollen, wie es Männer in ähnlichen Fällen zu thun pflegen,
benutzt diese Wendung, um gleichfalls ein anderes Verhältniß mit einer geist¬
reichen Gräfin Constanze anzuknüpfen. Das scheint aber seinem Freunde, dem
Schauspieler Larkens, unsittlich. Er benutzt also seine Fertigkeit, fremde Hand¬
schriften nachzumachen, dazu, im Namen seines Freundes an Agnes zu schreiben,
und die Sache wieder auszugleichen. Die Korrespondenz geht ein Jahr lang fort,
ohne daß Rollen Etwas davon erfährt. Jetzt erfolgt die erste Katastrophe; Lar¬
kens verschwindet, nachdem er vorher seinen Freund mit dem Geheimniß bekannt
gemacht. Rollen kehrt in Folge dessen zu Agnes zurück, die er aus den Briefen
schätzen gelernt; Constanze wird unglücklich, Larkens tobtet sich selbst, vielleicht aus
heimlicher Liebe zu Agnes, vielleicht aber auch aus anderen Gründen. Zweite


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/313>, abgerufen am 04.07.2024.