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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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zu zwingen verstanden, und ihm in derselben Weise die innere Nothwendigkeit
ihrer Schöpfungen zur Evidenz gebracht, wie es der Mathematiker dem Verstände
gegenüber durch seine Beweisführung thut. Darin ist Shakspeare ebeu so classisch,
wie irgend ein Grieche. Abgesehen von einzelnen Voraussetzungen seiner Technik,
die nicht überall erfüllt werden können, und die daher die vollständige Ausführung
seiner Intentionen nicht möglich machen, ist, was er giebt, dem Gefühl jedes
echten Menschen vollkommen verständlich. Bei anderen Dichtern, z. B. bei Cal-
deron, muß-mau sich schon mit seinem Gemüth künstlich in eine Weltanschauung
versetzen, die dem Verstaube widerspricht, man muß vou der Totalität seiner
Empfindungen abstrahire". Ist man das im Stande, so findet man sich aller¬
dings wieder in einer harmonisch zusammenhängenden Welt, der Welt einer höchst
einseitigen, aber im Uebrigen verständlichen und durchsichtigen Bildung. Solche
Dichter, die wesentlich nur für ihre Zeit und für die gelehrten Literarhistoriker
späterer Jahrhunderte geschrieben haben, gehören nur bedingt in die Kategorie
der Klassicität, sie sind aber insofern sehr wichtig, als sich in ihnen ein historisches
BiiduugSmvment zu einem klaren, schönen und interessanten Bilde stxirte. Wir
entnehmen aus ihnen nicht, was der Mensch überhaupt fühlen und denken soll,
aber wir erfahren, was die Menschheit in einem bestimmten, nothwendigen Ueber-
gangspunkt empfunden und gedacht hat.

Ganz anders ist es mit der Nachtseite derjenigen Poesie beschaffen, die wir.
hier im Auge haben. Die Klassiker der .ersten und zweiten Gattung sprechen
vollständig aus, was sie eigentlich wollen, und wenn die Letzteren unser unmittel¬
bares Gefühl beleidigen, so kommen Verstand und Phantasie zu Hilfe, indem
sie die richtige Perspective aufstellen, und so die angemessene Strahlenbrechung
vermitteln. Wir Neuesten dagegen haben uus auf ein Gebiet begeben, in dem
ein Licht waltet, das uns durch keine Kunststücke der Optik verständlich gemacht
werden kann, weil wir es mit unsren Augen überhaupt uicht wahrnehmen. Wir
sind in den geheimsten Schacht unsrer Seele heruntergestiegen, tasten ängstlich,
aber mit einem gewissen lüsternen Schauder darin herum, finden uns aber nie
zu Hanse, weil wir bei dieser Art von Untersuchungen nur Einzelnes, Endliches,
nie eine Totalität wahrnehmen.

Wenn wir bestimmen sollten, von wem diese Richtung der Poesie ausgeht,
so würden wir nicht die Romantiker nennen, obgleich diese mit einer gewissen
Absichtlichkeit darauf ausgingen,- das Unbestimmte und Unbestimmbare zum Gegen¬
stand der Poesie zu machen. Es fehlt ihnen eben an der schöpferischen Kraft ihre
Intentionen zu gestalten, und daher blieben ihre Sonderbarkeiten Sonderbarkeiten des
Verstandes. Der Dichter vielmehr, an den wir auch diese Wendung unsrer Poesie
""knüpfen müssen, wie alle anderen Richtungen, die wir im letzten Jahrhundert
durchgemacht haben, ist Goethe.

Um näher anzudeuten, was wir hier meinen, beziehen wir uus zunächst auf


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zu zwingen verstanden, und ihm in derselben Weise die innere Nothwendigkeit
ihrer Schöpfungen zur Evidenz gebracht, wie es der Mathematiker dem Verstände
gegenüber durch seine Beweisführung thut. Darin ist Shakspeare ebeu so classisch,
wie irgend ein Grieche. Abgesehen von einzelnen Voraussetzungen seiner Technik,
die nicht überall erfüllt werden können, und die daher die vollständige Ausführung
seiner Intentionen nicht möglich machen, ist, was er giebt, dem Gefühl jedes
echten Menschen vollkommen verständlich. Bei anderen Dichtern, z. B. bei Cal-
deron, muß-mau sich schon mit seinem Gemüth künstlich in eine Weltanschauung
versetzen, die dem Verstaube widerspricht, man muß vou der Totalität seiner
Empfindungen abstrahire». Ist man das im Stande, so findet man sich aller¬
dings wieder in einer harmonisch zusammenhängenden Welt, der Welt einer höchst
einseitigen, aber im Uebrigen verständlichen und durchsichtigen Bildung. Solche
Dichter, die wesentlich nur für ihre Zeit und für die gelehrten Literarhistoriker
späterer Jahrhunderte geschrieben haben, gehören nur bedingt in die Kategorie
der Klassicität, sie sind aber insofern sehr wichtig, als sich in ihnen ein historisches
BiiduugSmvment zu einem klaren, schönen und interessanten Bilde stxirte. Wir
entnehmen aus ihnen nicht, was der Mensch überhaupt fühlen und denken soll,
aber wir erfahren, was die Menschheit in einem bestimmten, nothwendigen Ueber-
gangspunkt empfunden und gedacht hat.

Ganz anders ist es mit der Nachtseite derjenigen Poesie beschaffen, die wir.
hier im Auge haben. Die Klassiker der .ersten und zweiten Gattung sprechen
vollständig aus, was sie eigentlich wollen, und wenn die Letzteren unser unmittel¬
bares Gefühl beleidigen, so kommen Verstand und Phantasie zu Hilfe, indem
sie die richtige Perspective aufstellen, und so die angemessene Strahlenbrechung
vermitteln. Wir Neuesten dagegen haben uus auf ein Gebiet begeben, in dem
ein Licht waltet, das uns durch keine Kunststücke der Optik verständlich gemacht
werden kann, weil wir es mit unsren Augen überhaupt uicht wahrnehmen. Wir
sind in den geheimsten Schacht unsrer Seele heruntergestiegen, tasten ängstlich,
aber mit einem gewissen lüsternen Schauder darin herum, finden uns aber nie
zu Hanse, weil wir bei dieser Art von Untersuchungen nur Einzelnes, Endliches,
nie eine Totalität wahrnehmen.

Wenn wir bestimmen sollten, von wem diese Richtung der Poesie ausgeht,
so würden wir nicht die Romantiker nennen, obgleich diese mit einer gewissen
Absichtlichkeit darauf ausgingen,- das Unbestimmte und Unbestimmbare zum Gegen¬
stand der Poesie zu machen. Es fehlt ihnen eben an der schöpferischen Kraft ihre
Intentionen zu gestalten, und daher blieben ihre Sonderbarkeiten Sonderbarkeiten des
Verstandes. Der Dichter vielmehr, an den wir auch diese Wendung unsrer Poesie
""knüpfen müssen, wie alle anderen Richtungen, die wir im letzten Jahrhundert
durchgemacht haben, ist Goethe.

Um näher anzudeuten, was wir hier meinen, beziehen wir uus zunächst auf


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[0311] zu zwingen verstanden, und ihm in derselben Weise die innere Nothwendigkeit ihrer Schöpfungen zur Evidenz gebracht, wie es der Mathematiker dem Verstände gegenüber durch seine Beweisführung thut. Darin ist Shakspeare ebeu so classisch, wie irgend ein Grieche. Abgesehen von einzelnen Voraussetzungen seiner Technik, die nicht überall erfüllt werden können, und die daher die vollständige Ausführung seiner Intentionen nicht möglich machen, ist, was er giebt, dem Gefühl jedes echten Menschen vollkommen verständlich. Bei anderen Dichtern, z. B. bei Cal- deron, muß-mau sich schon mit seinem Gemüth künstlich in eine Weltanschauung versetzen, die dem Verstaube widerspricht, man muß vou der Totalität seiner Empfindungen abstrahire». Ist man das im Stande, so findet man sich aller¬ dings wieder in einer harmonisch zusammenhängenden Welt, der Welt einer höchst einseitigen, aber im Uebrigen verständlichen und durchsichtigen Bildung. Solche Dichter, die wesentlich nur für ihre Zeit und für die gelehrten Literarhistoriker späterer Jahrhunderte geschrieben haben, gehören nur bedingt in die Kategorie der Klassicität, sie sind aber insofern sehr wichtig, als sich in ihnen ein historisches BiiduugSmvment zu einem klaren, schönen und interessanten Bilde stxirte. Wir entnehmen aus ihnen nicht, was der Mensch überhaupt fühlen und denken soll, aber wir erfahren, was die Menschheit in einem bestimmten, nothwendigen Ueber- gangspunkt empfunden und gedacht hat. Ganz anders ist es mit der Nachtseite derjenigen Poesie beschaffen, die wir. hier im Auge haben. Die Klassiker der .ersten und zweiten Gattung sprechen vollständig aus, was sie eigentlich wollen, und wenn die Letzteren unser unmittel¬ bares Gefühl beleidigen, so kommen Verstand und Phantasie zu Hilfe, indem sie die richtige Perspective aufstellen, und so die angemessene Strahlenbrechung vermitteln. Wir Neuesten dagegen haben uus auf ein Gebiet begeben, in dem ein Licht waltet, das uns durch keine Kunststücke der Optik verständlich gemacht werden kann, weil wir es mit unsren Augen überhaupt uicht wahrnehmen. Wir sind in den geheimsten Schacht unsrer Seele heruntergestiegen, tasten ängstlich, aber mit einem gewissen lüsternen Schauder darin herum, finden uns aber nie zu Hanse, weil wir bei dieser Art von Untersuchungen nur Einzelnes, Endliches, nie eine Totalität wahrnehmen. Wenn wir bestimmen sollten, von wem diese Richtung der Poesie ausgeht, so würden wir nicht die Romantiker nennen, obgleich diese mit einer gewissen Absichtlichkeit darauf ausgingen,- das Unbestimmte und Unbestimmbare zum Gegen¬ stand der Poesie zu machen. Es fehlt ihnen eben an der schöpferischen Kraft ihre Intentionen zu gestalten, und daher blieben ihre Sonderbarkeiten Sonderbarkeiten des Verstandes. Der Dichter vielmehr, an den wir auch diese Wendung unsrer Poesie ""knüpfen müssen, wie alle anderen Richtungen, die wir im letzten Jahrhundert durchgemacht haben, ist Goethe. Um näher anzudeuten, was wir hier meinen, beziehen wir uus zunächst auf 38*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/311>, abgerufen am 24.07.2024.