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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Sein erstes Auftreten hat bedeutende Erwartungen erregt, er hat aber nach
dem "Maler Rollen" (1832), nichts Größeres geschrieben, was insofern ein sehr
günstiges Zeugniß für ihn ist, als man daraus sieht, daß er nur dann produ-
cirte, wenn die innere Stimmung ihn trieb. Diese Wahrheit und Originalität
des Schaffens zeigt sich schon in seinen Gedichten. In der Zierlichkeit nud Ab-
rundung der Formen möchten ihn viele seiner schwäbischen Landsleute übertreffen,
aber bei keinem von ihnen prägt sich diese bestimmte Individualität der Empfin¬
dung aus. Sie gewöhnten sich sehr bald daran, bestimmte conventionelle Stoffe
zu behandeln, und das Verhältniß des Gemüths zu denselben nach einer Norm
zu regeln, die im Wesentlichen bereits dnrch Uhland vorgezeichnet war.
Mörike hat diesen Stoff bei Seite gelassen. Wenn er auch im Großen und
Ganzen nichts Anderes geben kann, als was das menschliche Herz bewegt hat,
so lange die Welt steht, und was in allen Zonen und Jahrtausenden eine ziemlich
ähnliche Physiognomie tragen wird, so hat er doch die Aeußerungen dieser Grnnd-
empftndnng in so warmem Detail ausgearbeitet, daß er uns immer neu erscheint.
Diese lyrischen Gedichte befriedigen die beiden wesentlichen Forderungen, die man
an die subjective Kunst stellen darf, sie frappiren uns ihrer individuellen Hal¬
tung wegen, und sie machen doch den Eindruck des Wahren, des allgemein
Menschlichen.

Von seinem Roman kann man das Letztere nicht behaupten. Er enthält
aber so viel glänzende Züge, und zeigt auch seine Irrthümer mit so viel Geist
zersetzt, daß wir in einer Zeit, die an Versuchen ähnlicher Art überreich, an
eigentlicher Productivität aber sehr arm ist, mit Recht auf dieses seltsame Werk
die Aufmerksamkeit zurückzulenkeu glauben.

Ju den ersten Jahren dieses Jahrhunderts schrieb der Münchener Natur-
Philosoph Schubert ein Buch, welches damals viel Interesse erregte, und auch
heut zu Tage "och uicht ganz vergessen ist: Ansichten von der Nachtseite der Natur-
wissenschaft. Uuter Nachtseite versteht man diejenige Seite eines Planeten, die
von der Sonne nicht beschienen wird, die aber ein eigenes phosphorartiges Licht
entwickelt, welches sich bei Tage mir gegen den übermächtigen Glanz der Sonne
nicht behaupten kann. Eine solche Nachtseite existirt auch in der geistigen Welt,
und die neuere deutsche Poesie scheint sich die Hauptaufgabe gesetzt zu haben,
diese Nachtseite der Seele zu analysiren.

Daß die Poesie sich fortwährend mit irrationeller, dem gemeinen Verstand
unauflöslichen Verhältnissen zu thun machen muß, liegt auf der Hand. Jede
größere Regung der Seele ist für den Verstand iucvmmensurabel. Der Dichter
appellirt daher auch uicht an den zersetzenden Verstand, sondern an das nnch-
schaffende Gefühl, welches überall Totalität erblickt, wo der Verstand nnr' ein¬
zelne Seilen verfolgt. Aber die großen, oder wie man sie gewöhnlich nennt,
die classischen Dichter, unter den Alten, wie uuter deu Neuen, haben das Gefühl


Sein erstes Auftreten hat bedeutende Erwartungen erregt, er hat aber nach
dem „Maler Rollen" (1832), nichts Größeres geschrieben, was insofern ein sehr
günstiges Zeugniß für ihn ist, als man daraus sieht, daß er nur dann produ-
cirte, wenn die innere Stimmung ihn trieb. Diese Wahrheit und Originalität
des Schaffens zeigt sich schon in seinen Gedichten. In der Zierlichkeit nud Ab-
rundung der Formen möchten ihn viele seiner schwäbischen Landsleute übertreffen,
aber bei keinem von ihnen prägt sich diese bestimmte Individualität der Empfin¬
dung aus. Sie gewöhnten sich sehr bald daran, bestimmte conventionelle Stoffe
zu behandeln, und das Verhältniß des Gemüths zu denselben nach einer Norm
zu regeln, die im Wesentlichen bereits dnrch Uhland vorgezeichnet war.
Mörike hat diesen Stoff bei Seite gelassen. Wenn er auch im Großen und
Ganzen nichts Anderes geben kann, als was das menschliche Herz bewegt hat,
so lange die Welt steht, und was in allen Zonen und Jahrtausenden eine ziemlich
ähnliche Physiognomie tragen wird, so hat er doch die Aeußerungen dieser Grnnd-
empftndnng in so warmem Detail ausgearbeitet, daß er uns immer neu erscheint.
Diese lyrischen Gedichte befriedigen die beiden wesentlichen Forderungen, die man
an die subjective Kunst stellen darf, sie frappiren uns ihrer individuellen Hal¬
tung wegen, und sie machen doch den Eindruck des Wahren, des allgemein
Menschlichen.

Von seinem Roman kann man das Letztere nicht behaupten. Er enthält
aber so viel glänzende Züge, und zeigt auch seine Irrthümer mit so viel Geist
zersetzt, daß wir in einer Zeit, die an Versuchen ähnlicher Art überreich, an
eigentlicher Productivität aber sehr arm ist, mit Recht auf dieses seltsame Werk
die Aufmerksamkeit zurückzulenkeu glauben.

Ju den ersten Jahren dieses Jahrhunderts schrieb der Münchener Natur-
Philosoph Schubert ein Buch, welches damals viel Interesse erregte, und auch
heut zu Tage »och uicht ganz vergessen ist: Ansichten von der Nachtseite der Natur-
wissenschaft. Uuter Nachtseite versteht man diejenige Seite eines Planeten, die
von der Sonne nicht beschienen wird, die aber ein eigenes phosphorartiges Licht
entwickelt, welches sich bei Tage mir gegen den übermächtigen Glanz der Sonne
nicht behaupten kann. Eine solche Nachtseite existirt auch in der geistigen Welt,
und die neuere deutsche Poesie scheint sich die Hauptaufgabe gesetzt zu haben,
diese Nachtseite der Seele zu analysiren.

Daß die Poesie sich fortwährend mit irrationeller, dem gemeinen Verstand
unauflöslichen Verhältnissen zu thun machen muß, liegt auf der Hand. Jede
größere Regung der Seele ist für den Verstand iucvmmensurabel. Der Dichter
appellirt daher auch uicht an den zersetzenden Verstand, sondern an das nnch-
schaffende Gefühl, welches überall Totalität erblickt, wo der Verstand nnr' ein¬
zelne Seilen verfolgt. Aber die großen, oder wie man sie gewöhnlich nennt,
die classischen Dichter, unter den Alten, wie uuter deu Neuen, haben das Gefühl


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[0310] Sein erstes Auftreten hat bedeutende Erwartungen erregt, er hat aber nach dem „Maler Rollen" (1832), nichts Größeres geschrieben, was insofern ein sehr günstiges Zeugniß für ihn ist, als man daraus sieht, daß er nur dann produ- cirte, wenn die innere Stimmung ihn trieb. Diese Wahrheit und Originalität des Schaffens zeigt sich schon in seinen Gedichten. In der Zierlichkeit nud Ab- rundung der Formen möchten ihn viele seiner schwäbischen Landsleute übertreffen, aber bei keinem von ihnen prägt sich diese bestimmte Individualität der Empfin¬ dung aus. Sie gewöhnten sich sehr bald daran, bestimmte conventionelle Stoffe zu behandeln, und das Verhältniß des Gemüths zu denselben nach einer Norm zu regeln, die im Wesentlichen bereits dnrch Uhland vorgezeichnet war. Mörike hat diesen Stoff bei Seite gelassen. Wenn er auch im Großen und Ganzen nichts Anderes geben kann, als was das menschliche Herz bewegt hat, so lange die Welt steht, und was in allen Zonen und Jahrtausenden eine ziemlich ähnliche Physiognomie tragen wird, so hat er doch die Aeußerungen dieser Grnnd- empftndnng in so warmem Detail ausgearbeitet, daß er uns immer neu erscheint. Diese lyrischen Gedichte befriedigen die beiden wesentlichen Forderungen, die man an die subjective Kunst stellen darf, sie frappiren uns ihrer individuellen Hal¬ tung wegen, und sie machen doch den Eindruck des Wahren, des allgemein Menschlichen. Von seinem Roman kann man das Letztere nicht behaupten. Er enthält aber so viel glänzende Züge, und zeigt auch seine Irrthümer mit so viel Geist zersetzt, daß wir in einer Zeit, die an Versuchen ähnlicher Art überreich, an eigentlicher Productivität aber sehr arm ist, mit Recht auf dieses seltsame Werk die Aufmerksamkeit zurückzulenkeu glauben. Ju den ersten Jahren dieses Jahrhunderts schrieb der Münchener Natur- Philosoph Schubert ein Buch, welches damals viel Interesse erregte, und auch heut zu Tage »och uicht ganz vergessen ist: Ansichten von der Nachtseite der Natur- wissenschaft. Uuter Nachtseite versteht man diejenige Seite eines Planeten, die von der Sonne nicht beschienen wird, die aber ein eigenes phosphorartiges Licht entwickelt, welches sich bei Tage mir gegen den übermächtigen Glanz der Sonne nicht behaupten kann. Eine solche Nachtseite existirt auch in der geistigen Welt, und die neuere deutsche Poesie scheint sich die Hauptaufgabe gesetzt zu haben, diese Nachtseite der Seele zu analysiren. Daß die Poesie sich fortwährend mit irrationeller, dem gemeinen Verstand unauflöslichen Verhältnissen zu thun machen muß, liegt auf der Hand. Jede größere Regung der Seele ist für den Verstand iucvmmensurabel. Der Dichter appellirt daher auch uicht an den zersetzenden Verstand, sondern an das nnch- schaffende Gefühl, welches überall Totalität erblickt, wo der Verstand nnr' ein¬ zelne Seilen verfolgt. Aber die großen, oder wie man sie gewöhnlich nennt, die classischen Dichter, unter den Alten, wie uuter deu Neuen, haben das Gefühl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/310>, abgerufen am 24.07.2024.