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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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schciffnng der Sprache die große Meisterin des Werks, die Natur, befolgt hat: eine
Aufgabe, vor der die Meisten zurückgeschreckt sein würden, die ihre Unendlichkeit
und fast unübersteiglichen Schwierigkeiten' zu ermessen vermocht hätten. Denn
scheint es, als ob die Natur überall die Gesetze ihres Schaffens dem menschlichen
Auge habe entziehen wollen, so kaun sie dem Naturforscher doch nicht die unendliche
sich immer neu erzeugende Fülle der Wesen vorenthalten, ein unvergängliches
Object seiner Forschungen, wo sich ewige Gesetze in immer denselben Formen
offenbaren. Dagegen wer die Manifestationen des menschlichen Geistes in einer
untergegangenen Sprache zu erkennen strebt, hat einen von vorn herein unendlich
fragmentirten Stoff vor sich, wo es der ermüdendsten Umwege bedarf, um ans
atonisch zersplitterten Bruchstücken auch das geringste Ganze zusammenzusetzen.
Keine Wissenschaft dürfte einen höhern Muth des Geistes, keine größere Ausdauer
und Resignation fordern, keine mehr von der "Hartnäckigkeit, die einen zurück¬
gelegten Weg auch um einer geringfügigen Frage willen noch einmal zurück¬
legt"*) -- und sicherlich besitzt keiner nnter allen lebenden Gelehrten diese Eigen¬
schaften in höherem Grade als Lobeck. Auch hat sich außer ihm Niemand, der
den Namen eines wahren Forschers verdient, auf dieses in Dunkel gehüllte Gebiet
gewagt; er allein wandelt hier, gleich dem homerischen Tiresias mit Seherkraft
begabt, wo die Anderen als Schatten umhertaumeln. Was in heulen Werken
über Sprachbildung zunächst zur Bewunderung zwingt, das sind die riesenhaften
Massen des aufgehäuften Stoffs, aber eine höhere Bewunderung fordert der Geist,
der diese unübersehbare Fülle zu bewältigen und zu beherrsche", aus unzähligen
entstellten Resten die einstige Form der Gestalten zu erkennen vermochte, der die
todte Materie mit einem neuen organischen Leben durchdrang. Aber selbst um
diesen Untersuchungen nur folgen zu können, ist eine gewisse Reife und Kräftigung
nöthig, wie in große Ströme sich nur gewiegte Schwimmer wagen dürfen; denn
überall sieht man sich von der heranfluthenden Fülle umdrängt und überstürzt,
in der man sich ohne unablässig gespannte Aufmerksamkeit verliert. Dies ist
aber das Schicksal eiues großen Theils von Lobecks Lesern, dessen Werke über¬
haupt mehr angestaunt als begriffen, und von Denen, die sie am wenigsten be¬
greifen, auch bekrittelt werden. Zu den Kurzsichtigen, die sich berufen glaube",
Lobeck zu meistern, gehören namentlich einige Jünger der jüngsten Wissenschaft,
der Sprachvergleichung, die hente schon lehren, was sie gestern gelernt haben, in
dem Glauben, daß eine oberflächliche Kenntniß des Sanskrit hinreicht, um auf
Forschungen des Griechischen und Lateinischen vornehm herabzusehen, da diese
Untersuchungen doch mir dann Frucht tragen könnten, wenn man sie auf der
Basis der Ursprache anstellte. Alle bis jetzt von dieser Seite gemachten Ver¬
suche, die classische Sprachforschung zu reformiren, sind wenig geeignet, dieser Thco-



*) Aus einer Vorrede von Lobeck.

schciffnng der Sprache die große Meisterin des Werks, die Natur, befolgt hat: eine
Aufgabe, vor der die Meisten zurückgeschreckt sein würden, die ihre Unendlichkeit
und fast unübersteiglichen Schwierigkeiten' zu ermessen vermocht hätten. Denn
scheint es, als ob die Natur überall die Gesetze ihres Schaffens dem menschlichen
Auge habe entziehen wollen, so kaun sie dem Naturforscher doch nicht die unendliche
sich immer neu erzeugende Fülle der Wesen vorenthalten, ein unvergängliches
Object seiner Forschungen, wo sich ewige Gesetze in immer denselben Formen
offenbaren. Dagegen wer die Manifestationen des menschlichen Geistes in einer
untergegangenen Sprache zu erkennen strebt, hat einen von vorn herein unendlich
fragmentirten Stoff vor sich, wo es der ermüdendsten Umwege bedarf, um ans
atonisch zersplitterten Bruchstücken auch das geringste Ganze zusammenzusetzen.
Keine Wissenschaft dürfte einen höhern Muth des Geistes, keine größere Ausdauer
und Resignation fordern, keine mehr von der „Hartnäckigkeit, die einen zurück¬
gelegten Weg auch um einer geringfügigen Frage willen noch einmal zurück¬
legt"*) — und sicherlich besitzt keiner nnter allen lebenden Gelehrten diese Eigen¬
schaften in höherem Grade als Lobeck. Auch hat sich außer ihm Niemand, der
den Namen eines wahren Forschers verdient, auf dieses in Dunkel gehüllte Gebiet
gewagt; er allein wandelt hier, gleich dem homerischen Tiresias mit Seherkraft
begabt, wo die Anderen als Schatten umhertaumeln. Was in heulen Werken
über Sprachbildung zunächst zur Bewunderung zwingt, das sind die riesenhaften
Massen des aufgehäuften Stoffs, aber eine höhere Bewunderung fordert der Geist,
der diese unübersehbare Fülle zu bewältigen und zu beherrsche», aus unzähligen
entstellten Resten die einstige Form der Gestalten zu erkennen vermochte, der die
todte Materie mit einem neuen organischen Leben durchdrang. Aber selbst um
diesen Untersuchungen nur folgen zu können, ist eine gewisse Reife und Kräftigung
nöthig, wie in große Ströme sich nur gewiegte Schwimmer wagen dürfen; denn
überall sieht man sich von der heranfluthenden Fülle umdrängt und überstürzt,
in der man sich ohne unablässig gespannte Aufmerksamkeit verliert. Dies ist
aber das Schicksal eiues großen Theils von Lobecks Lesern, dessen Werke über¬
haupt mehr angestaunt als begriffen, und von Denen, die sie am wenigsten be¬
greifen, auch bekrittelt werden. Zu den Kurzsichtigen, die sich berufen glaube»,
Lobeck zu meistern, gehören namentlich einige Jünger der jüngsten Wissenschaft,
der Sprachvergleichung, die hente schon lehren, was sie gestern gelernt haben, in
dem Glauben, daß eine oberflächliche Kenntniß des Sanskrit hinreicht, um auf
Forschungen des Griechischen und Lateinischen vornehm herabzusehen, da diese
Untersuchungen doch mir dann Frucht tragen könnten, wenn man sie auf der
Basis der Ursprache anstellte. Alle bis jetzt von dieser Seite gemachten Ver¬
suche, die classische Sprachforschung zu reformiren, sind wenig geeignet, dieser Thco-



*) Aus einer Vorrede von Lobeck.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/300>, abgerufen am 24.07.2024.