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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Ostens, die Anfangs stumm und scheu geworden waren, werden wieder laut, und
die symbolische Erklärung wuchert üppiger denn je. Der Eine sieht in der grie¬
chischen Religion einen symbolischen Ausdruck eines Systems der Lichterscheinungen,
der Andere der durch Wasser bewirkten Erdrevolutionen; man entdeckt die Lehre
vom Magnetismus, Elektricität und was nicht noch Alles in den Göttersagen;
ja, vor wenigen Jahren ist an den äußersten Grenzen der Civilisation (in Kasan)
ein Buch erschienen, worin bewiesen wird, daß alle griechischen Götter den Mond
bedeuten oder etwas Aehnliches -- und dieses Buch ist Lobeck in gutem Ernste
gewidmet! Aber solche Erscheinungen werden Niemanden befremden, der die
unzerstörbare Lebenskraft des Absurden kennt, das, in einer Form vernichtet, sich
in zehn neuen wieder herstellt; Niemanden, der weiß, wie wenig die Masse sähig
ist, den Irrthum von der Wahrheit zu unterscheiden, wenn er sich nur in einem
Gewände darstellt, das den Modegeschmack befriedigt. Der urtheilslose ober¬
flächliche Dilettantismus, die gewissenlose und schamlose Charlatanerie werden
immer auf der Seite der Symbolik stehen, die gemüthliche Bornirtheit wird nie
begreifen, warum man nicht beiden Parteien zugleich angehören könne; aber die
ernste Forschung, die allein den Namen der echten Wissenschaft verdient, wird
nie aufhören, die von Lobeck vertretene Sache zu verfechten, und die von ihm
erkannte und festgestellte Wahrheit wird immer ihr Leitstern bleiben.

Seit der Vollendung dieses Riesenwerkes hat Lobeck sich ganz ausschließlich
auf das Gebiet der Sprachforschung gewandt, dem schon sein Ajax und Phryni-
chus angehören. Hatte er bisher mit unwiderstehlicher Gewalt vernichtend und
zerstörend gewirkt, so entwickelte er von nun an auf einem bis dahin völlig wüsten
Felde der Sprachforschung eine nicht minder große schöpferische Kraft. Das
Studium des Griechischen, das im achtzehnten Jahrhundert besonders in Deutsch¬
land von dem Lateinischen in den Hintergrund gedrängt worden war, nahm seit
dem Ende desselben durch F. A. Wolf und G. Hermann einen neuen Aufschwung;
aber von ihnen sowol, als von den großen Hellenisten Englands und Hollands,
wurde die Sprache durchaus als Mittel zur Wiederherstellung und zum Verständ¬
niß der schriftlichen Denkmäler, die Grammatik als Dienerin der Kritik betrachtet
und behandelt. Von dieser Dienstbarkeit hat Lobeck die Sprache emancipirt,
.ihre Erforschung zu einer selbstständigen Wissenschaft erhoben, indem er ihre Bil¬
dungsgesetze -zum Gegenstande der Untersuchung machte. Der Prachtbau der
griechischen Sprache, wol der schönsten und reichsten, die je auf Erden gesprochen
worden, liegt in unabsehbaren chaotischen Trümmer vor uns: schon der bloße
Anblick verwirrt, die Durchmessung des ungeheuren Gebiets scheint allein ein
Menschenleben zu fordern. Vielleicht hat seit ihrem Untergänge nie ein Gelehrter
eine zugleich so umfassende als tiefeindringende Kenntniß ihrer schriftlichen Denk¬
mäler von Homer bis auf den letzten Byzantiner besessen, als Lobeck. Darum
durste er vor Allen es wagen, den geheimen Gesetzen nachzuforschen, die bei Er-


Ostens, die Anfangs stumm und scheu geworden waren, werden wieder laut, und
die symbolische Erklärung wuchert üppiger denn je. Der Eine sieht in der grie¬
chischen Religion einen symbolischen Ausdruck eines Systems der Lichterscheinungen,
der Andere der durch Wasser bewirkten Erdrevolutionen; man entdeckt die Lehre
vom Magnetismus, Elektricität und was nicht noch Alles in den Göttersagen;
ja, vor wenigen Jahren ist an den äußersten Grenzen der Civilisation (in Kasan)
ein Buch erschienen, worin bewiesen wird, daß alle griechischen Götter den Mond
bedeuten oder etwas Aehnliches — und dieses Buch ist Lobeck in gutem Ernste
gewidmet! Aber solche Erscheinungen werden Niemanden befremden, der die
unzerstörbare Lebenskraft des Absurden kennt, das, in einer Form vernichtet, sich
in zehn neuen wieder herstellt; Niemanden, der weiß, wie wenig die Masse sähig
ist, den Irrthum von der Wahrheit zu unterscheiden, wenn er sich nur in einem
Gewände darstellt, das den Modegeschmack befriedigt. Der urtheilslose ober¬
flächliche Dilettantismus, die gewissenlose und schamlose Charlatanerie werden
immer auf der Seite der Symbolik stehen, die gemüthliche Bornirtheit wird nie
begreifen, warum man nicht beiden Parteien zugleich angehören könne; aber die
ernste Forschung, die allein den Namen der echten Wissenschaft verdient, wird
nie aufhören, die von Lobeck vertretene Sache zu verfechten, und die von ihm
erkannte und festgestellte Wahrheit wird immer ihr Leitstern bleiben.

Seit der Vollendung dieses Riesenwerkes hat Lobeck sich ganz ausschließlich
auf das Gebiet der Sprachforschung gewandt, dem schon sein Ajax und Phryni-
chus angehören. Hatte er bisher mit unwiderstehlicher Gewalt vernichtend und
zerstörend gewirkt, so entwickelte er von nun an auf einem bis dahin völlig wüsten
Felde der Sprachforschung eine nicht minder große schöpferische Kraft. Das
Studium des Griechischen, das im achtzehnten Jahrhundert besonders in Deutsch¬
land von dem Lateinischen in den Hintergrund gedrängt worden war, nahm seit
dem Ende desselben durch F. A. Wolf und G. Hermann einen neuen Aufschwung;
aber von ihnen sowol, als von den großen Hellenisten Englands und Hollands,
wurde die Sprache durchaus als Mittel zur Wiederherstellung und zum Verständ¬
niß der schriftlichen Denkmäler, die Grammatik als Dienerin der Kritik betrachtet
und behandelt. Von dieser Dienstbarkeit hat Lobeck die Sprache emancipirt,
.ihre Erforschung zu einer selbstständigen Wissenschaft erhoben, indem er ihre Bil¬
dungsgesetze -zum Gegenstande der Untersuchung machte. Der Prachtbau der
griechischen Sprache, wol der schönsten und reichsten, die je auf Erden gesprochen
worden, liegt in unabsehbaren chaotischen Trümmer vor uns: schon der bloße
Anblick verwirrt, die Durchmessung des ungeheuren Gebiets scheint allein ein
Menschenleben zu fordern. Vielleicht hat seit ihrem Untergänge nie ein Gelehrter
eine zugleich so umfassende als tiefeindringende Kenntniß ihrer schriftlichen Denk¬
mäler von Homer bis auf den letzten Byzantiner besessen, als Lobeck. Darum
durste er vor Allen es wagen, den geheimen Gesetzen nachzuforschen, die bei Er-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/299>, abgerufen am 24.07.2024.