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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Singakademie aufgeführt. Bald folgten die Städte Breslau, Königsberg, Cassel,
Leipzig, an welchem letzteren Platze Mendelssohn die Aufführung am Charfreitage
-18^1 unternahm.

In dieser Passionsmusik, wie in der Ravii-Messe und einigen Motetten,
sind die größten Schönheiten der Bach'schen Gesangmusik niedergelegt; die ge¬
nauere Bekanntschaft mit ihnen genügt, um in der Seele ein vollständiges Bild
der anderen gleichen Werke zu construiren. Bach war einer der fruchtbarsten
Komponisten; seine Gesangswerke sind in so großer Anzahl vorhanden, daß fast
zwei Leben von sonst für sehr fleißig gehaltenen Komponisten dazu gehören wür¬
den, um die gleiche Summe zu schaffen. Es ist einleuchtend, daß die Erzeug¬
nisse dieses übertriebenen Fleißes nicht alle gleichen Werth besitzen, daß auch hier
sich manche sogenannte Chabloueuarbeit findet, besonders wenn es galt, in der
Schnelligkeit zu diesem oder jenem Kirchenfeste neue Musik zu liefern. Dennoch
vergaß sich Bach nie in handwerksmäßigen Treiben; die Funken seines Genies
sprühen auch aus deu scheinbar leicht hingeworfenen Arbeiten; freilich gehört, um
diese zu erkennen und sich von ihnen entzücken zu lassen, eine genaue Bekanntschaft
nicht, nur der Bach'schen Werke selbst, sondern überhaupt der strengen Musik
jener Zeit und des Kontrapunkts. Als durch Mendelssohn der Cultus dieser
Musik wieder gehoben und Mode wurde, bildete sich bald eine Opposition, welche,
den Maximen der großen Wiener Schule anhängend, sich nachzuweisen bemühte,
daß nur die Selbsttäuschung gelehrter Musiker an Bach Gefallen finden könne.
Aber Bach ist kein kalter Rechenmeister. Wenn auch in allen seinen Kompositionen
die wunderbarsten contrapunktischen Combinationen sich gleichsam drängen, so darf
man dennoch von keiner dieser Stellen behaupten, daß sie absichtlich erkünstelt
sei. Sie bilden sich unter seinen Händen gleichsam ohne sein Bewußtsein; die
anerzogene Schreibweise jener Zeit, seine übergroße natürliche Befähigung, sein
ernstes, gewissenhaftes Studium, Alles dies wirkte zusammen. Auch der Vorwurf
eines Mangels an Melodie ist nicht motivirt. Schon eine sorgfältige Prüfung
des "wohltemperirten Klaviers" beweist seinen Reichthum. Noch mehr seine Gc-
sangscomposttionen. sowol die Motive seiner Chöre, als besonders die Me¬
lodien der Arien sind so innig und wahr empfunden, so treu den Textesworten
angeschmiegt, wie dies keiner der Nachfolgenden besser gethan, und wenn wir
deren Weisen besser begreisen, so liegt dies hauptsächlich an, der nähern Bekannt¬
schaft, die wir von Jugend auf mit thuen geschlossen, weil wir von Kindheit auf
mit ihnen genährt sind. Bach's Musik ist eben so gut eine Aeußerung des Pro¬
testantismus, wie die geistlichen Kirchenlieder der lutherischen Dichter, die von dem
Rationalismus lange Zeit bei Seite geworfen wurden, und dennoch nicht unter¬
gegangen sind. Er.repräsentirt sich unsrem, der sinnlichen Schönheit mehr an¬
hängenden Geschlechte in seinem entsagenden, nüchternen Wesen-freilich als ein
unbegreifliches Wesen; wir werden ihn anch nicht verstehen, wenn wir uns ihm


Singakademie aufgeführt. Bald folgten die Städte Breslau, Königsberg, Cassel,
Leipzig, an welchem letzteren Platze Mendelssohn die Aufführung am Charfreitage
-18^1 unternahm.

In dieser Passionsmusik, wie in der Ravii-Messe und einigen Motetten,
sind die größten Schönheiten der Bach'schen Gesangmusik niedergelegt; die ge¬
nauere Bekanntschaft mit ihnen genügt, um in der Seele ein vollständiges Bild
der anderen gleichen Werke zu construiren. Bach war einer der fruchtbarsten
Komponisten; seine Gesangswerke sind in so großer Anzahl vorhanden, daß fast
zwei Leben von sonst für sehr fleißig gehaltenen Komponisten dazu gehören wür¬
den, um die gleiche Summe zu schaffen. Es ist einleuchtend, daß die Erzeug¬
nisse dieses übertriebenen Fleißes nicht alle gleichen Werth besitzen, daß auch hier
sich manche sogenannte Chabloueuarbeit findet, besonders wenn es galt, in der
Schnelligkeit zu diesem oder jenem Kirchenfeste neue Musik zu liefern. Dennoch
vergaß sich Bach nie in handwerksmäßigen Treiben; die Funken seines Genies
sprühen auch aus deu scheinbar leicht hingeworfenen Arbeiten; freilich gehört, um
diese zu erkennen und sich von ihnen entzücken zu lassen, eine genaue Bekanntschaft
nicht, nur der Bach'schen Werke selbst, sondern überhaupt der strengen Musik
jener Zeit und des Kontrapunkts. Als durch Mendelssohn der Cultus dieser
Musik wieder gehoben und Mode wurde, bildete sich bald eine Opposition, welche,
den Maximen der großen Wiener Schule anhängend, sich nachzuweisen bemühte,
daß nur die Selbsttäuschung gelehrter Musiker an Bach Gefallen finden könne.
Aber Bach ist kein kalter Rechenmeister. Wenn auch in allen seinen Kompositionen
die wunderbarsten contrapunktischen Combinationen sich gleichsam drängen, so darf
man dennoch von keiner dieser Stellen behaupten, daß sie absichtlich erkünstelt
sei. Sie bilden sich unter seinen Händen gleichsam ohne sein Bewußtsein; die
anerzogene Schreibweise jener Zeit, seine übergroße natürliche Befähigung, sein
ernstes, gewissenhaftes Studium, Alles dies wirkte zusammen. Auch der Vorwurf
eines Mangels an Melodie ist nicht motivirt. Schon eine sorgfältige Prüfung
des „wohltemperirten Klaviers" beweist seinen Reichthum. Noch mehr seine Gc-
sangscomposttionen. sowol die Motive seiner Chöre, als besonders die Me¬
lodien der Arien sind so innig und wahr empfunden, so treu den Textesworten
angeschmiegt, wie dies keiner der Nachfolgenden besser gethan, und wenn wir
deren Weisen besser begreisen, so liegt dies hauptsächlich an, der nähern Bekannt¬
schaft, die wir von Jugend auf mit thuen geschlossen, weil wir von Kindheit auf
mit ihnen genährt sind. Bach's Musik ist eben so gut eine Aeußerung des Pro¬
testantismus, wie die geistlichen Kirchenlieder der lutherischen Dichter, die von dem
Rationalismus lange Zeit bei Seite geworfen wurden, und dennoch nicht unter¬
gegangen sind. Er.repräsentirt sich unsrem, der sinnlichen Schönheit mehr an¬
hängenden Geschlechte in seinem entsagenden, nüchternen Wesen-freilich als ein
unbegreifliches Wesen; wir werden ihn anch nicht verstehen, wenn wir uns ihm


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/273>, abgerufen am 24.07.2024.