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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Das Orchester und die Singakademie gaben mich diesen Charfreitag das
übliche Concert in den Räumen der Universitätskirche; mau hatte die Matthäus-
passivu von I. S. Bach gewählt. Diese Passion ist unter den fünf von ihm
geschriebenen die großartigste, ein würdiger Pendant zu seiner hohen Missa in
H moll. Sie ist zweichörig gesetzt, und verlangt deshalb zu ihrer Ausführung
die Mittel einer großen Stadt, während die zweite jetzt noch bekannte nach
dem Evangelium Johannis nur kleinere Kräfte bedarf, und in ihrem innern Ge¬
halte der erstem weit nachsteht. Die Passionsmusiken bildeten früher einen
wesentlichen Bestandtheil der Liturgie des Charsreitags; es existirten unzählige
Kompositionen der Leidensgeschichte, wie sie in den Evangelien niedergeschrieben
ist. Sie waren leicht auszuführen. Der sogenannte Evangelist, gewöhnlich ein
Tenor, sang nach der'in der protestantischen Kirche üblichen Weise, die Collecten
und Gebete zu intoniren, die Verse der Bibel ab; neben ihm figurirten die her¬
vorragenden Persönlichkeiten aus der Leidensgeschichte: Pontius Pilatus, Petrus,
die Magd, der Chor der Juden ze., die nach den so häufig wiederkehrenden
Einführnngswortcn des Evangelisten die in den Evangelien ihnen in den Mund
gelegten Worte sangen, die Magd im Sopran, Petrus im Alt, Pontius Pila-
tus im Baß, der Chor der Juden aber in vierstimmigen recitirenden Accorden,
die nur in den Schlußworten des Satzes von dem seinen, immer sylbenweise
wiederholten Tone abwichen, gerade so, wie es die lutherischen Prediger bei
dem Absingen der Collecten zu halten Pflegen. Die Gemeinden wurden gleichfalls
in die Ausführungen hineingezogen, indem man ihnen das Absingen von passenden
Choralversen übertrug, die von Zeit zu Zeit zur Erbauung und als moralische
Nutzanwendung eingeschoben wurden. Diese rohe Gestaltung liegt auch den Beins'-
schen Passionen zu Grunde. Bach hat die ursprüngliche Form nur veredelt,
indem er sie nach den Grundsätzen der musikalischen und poetischen Kunst be¬
arbeitete, die Ausführung seines Werkes kunstgeübten Sängern in die Hand gab,
die alte musikalische Tradition bei Seite warf, mit ihr zugleich die alt und stumpf
gewordenen Sänger derselben, und endlich die Gemeinde, die sich ja sonst nie¬
mals an der Ausführung der protestantischen Kirchenmusik betheiligte, ganz in
den'Hintergrund drängte, und ihre Theilnahme nur bis auf das Nothdürftigste
beschränkte. Die Bearbeitung des Textes geschah dnrch Picander (Chr. Fr. Henrici),
und aus einer den Werken dieses Dichters vorausgehenden Widmung, geschrieben
in der Ostermesse 1729, läßt sich schließen, daß die erste Aufführung dieses
Werkes ungefähr den Charfreitag desselben Jahres gefallen sein muß. Bei dem
Gedichte findet sich die Notiz, daß die Passion bei der Vesper in der Kirche
Se. Thoma in Leipzig in zwei Theilen, der eine vor der Predigt, der andere
nach derselben aufgeführt worden sei. Mendelssohn hat das große Verdienst,
dieses Werk der Vergessenheit entrissen zu haben. Seit langer Zeit das erste
Mal wurde dasselbe unter seiner Leitung den 12, März 1829 in der Berliner


Das Orchester und die Singakademie gaben mich diesen Charfreitag das
übliche Concert in den Räumen der Universitätskirche; mau hatte die Matthäus-
passivu von I. S. Bach gewählt. Diese Passion ist unter den fünf von ihm
geschriebenen die großartigste, ein würdiger Pendant zu seiner hohen Missa in
H moll. Sie ist zweichörig gesetzt, und verlangt deshalb zu ihrer Ausführung
die Mittel einer großen Stadt, während die zweite jetzt noch bekannte nach
dem Evangelium Johannis nur kleinere Kräfte bedarf, und in ihrem innern Ge¬
halte der erstem weit nachsteht. Die Passionsmusiken bildeten früher einen
wesentlichen Bestandtheil der Liturgie des Charsreitags; es existirten unzählige
Kompositionen der Leidensgeschichte, wie sie in den Evangelien niedergeschrieben
ist. Sie waren leicht auszuführen. Der sogenannte Evangelist, gewöhnlich ein
Tenor, sang nach der'in der protestantischen Kirche üblichen Weise, die Collecten
und Gebete zu intoniren, die Verse der Bibel ab; neben ihm figurirten die her¬
vorragenden Persönlichkeiten aus der Leidensgeschichte: Pontius Pilatus, Petrus,
die Magd, der Chor der Juden ze., die nach den so häufig wiederkehrenden
Einführnngswortcn des Evangelisten die in den Evangelien ihnen in den Mund
gelegten Worte sangen, die Magd im Sopran, Petrus im Alt, Pontius Pila-
tus im Baß, der Chor der Juden aber in vierstimmigen recitirenden Accorden,
die nur in den Schlußworten des Satzes von dem seinen, immer sylbenweise
wiederholten Tone abwichen, gerade so, wie es die lutherischen Prediger bei
dem Absingen der Collecten zu halten Pflegen. Die Gemeinden wurden gleichfalls
in die Ausführungen hineingezogen, indem man ihnen das Absingen von passenden
Choralversen übertrug, die von Zeit zu Zeit zur Erbauung und als moralische
Nutzanwendung eingeschoben wurden. Diese rohe Gestaltung liegt auch den Beins'-
schen Passionen zu Grunde. Bach hat die ursprüngliche Form nur veredelt,
indem er sie nach den Grundsätzen der musikalischen und poetischen Kunst be¬
arbeitete, die Ausführung seines Werkes kunstgeübten Sängern in die Hand gab,
die alte musikalische Tradition bei Seite warf, mit ihr zugleich die alt und stumpf
gewordenen Sänger derselben, und endlich die Gemeinde, die sich ja sonst nie¬
mals an der Ausführung der protestantischen Kirchenmusik betheiligte, ganz in
den'Hintergrund drängte, und ihre Theilnahme nur bis auf das Nothdürftigste
beschränkte. Die Bearbeitung des Textes geschah dnrch Picander (Chr. Fr. Henrici),
und aus einer den Werken dieses Dichters vorausgehenden Widmung, geschrieben
in der Ostermesse 1729, läßt sich schließen, daß die erste Aufführung dieses
Werkes ungefähr den Charfreitag desselben Jahres gefallen sein muß. Bei dem
Gedichte findet sich die Notiz, daß die Passion bei der Vesper in der Kirche
Se. Thoma in Leipzig in zwei Theilen, der eine vor der Predigt, der andere
nach derselben aufgeführt worden sei. Mendelssohn hat das große Verdienst,
dieses Werk der Vergessenheit entrissen zu haben. Seit langer Zeit das erste
Mal wurde dasselbe unter seiner Leitung den 12, März 1829 in der Berliner


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/272>, abgerufen am 24.07.2024.