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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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nicht so lautern und ernsten Geistes zu nahen suchen, wie er es selbst als aus¬
übender Künstler immer gewesen. Wem es aber darum zu thun ist, ihn genauer
zu durchdringen und zu erfassen, findet gerade in den Passionsmusiken den besten
Weg dazu gebahnt. Die kleine Passion nach Johannes dient der größer" nach
Matthäus als treffliche Einführung. Die Behandlung der Recitative ist gleich
sorgfältig und dies ist eben kein kleiner Vorzug der Bach'schen Musik. Das
Recitativ, zu jener Zeit erst im Entstehe" begriffen, wurde nicht Note für Note
von dem Komponisten vorgeschrieben, man schrieb allein den bezifferten Baß, und
überließ es dem Sänger, die Worte nach den bezeichneten Harmonien zu reci-
tiren. Bach componirte die Recitative sehr sorgfältig, wie er sie gesungen
haben wollte, und sowol seine Declamation, als die harmonischen Grundlagen
sind musterhaft zu nennen. Die spätere Oratorienmufik hat hierin ihm viel ,
zu verdanken. Die Chöre der Johannispassion sind nur vierstimmig gesetzt,
während die des großen Matthäuswerkes für 8 Realstimmen oder 2 Chöre ge¬
schrieben sind. Die zweichörigen Stücke zeichnen sich durch Großartigkeit und
Pracht, die Chöre der kleinen Passton aber, so wie überhaupt die ganze dazu
gehörige Musik durch Einfachheit und größere Durchsichtigkeit aus. Der Arienstyl
Bach's ist ein eigenthümlicher. Es gab zu seiner Zeit noch wenig gute Muster,
die ihm zum Vorbild dienen konnten. Die Leistungen der neapolitanischen Schule,
welche für die Ausbildung der Arie sehr viel gethan hat, waren in Deutschland
noch wenig bekannt, und so war er genöthigt, ans sich selbst zu schöpfen. Wie
vorauszusetzen, unterließ er es, die Singstimme auf Kosten des harmonischen
Theils zu bevorzugen; seine Arien sind deshalb rein contrapunktische Gebilde, und
in ihnen liegt die Grundlage des spätern concertirenden Ariensthls, den wir bei Mozart
so vortrefflich ausgebildet finden. Die gleiche Betheiligung der Instrumente an
diesen Sätzen erschwert dem sichern Sänger den Vortrag, sie bedingt die präciseste
Ausführung, die dnrch eine solide musikalische Bildung nur getragen werden kann.
Wir wissen, wie wenig Sänger der neuern Zeit dieser Forderung entsprechen,
und so ist es erklärlich, daß man sie als unbrauchbar bei Seite geworfen hat.
Dazu kommt, daß es schwerer ist, die Gedanken und Empfindungen eines großen
Menschen wiederzugeben; bequemer ist es gewiß für ungebildete Künstler, Triviales
zu reproduciren, und damit die Gedankenlosigkeit zu unterlmlteu. Eine besondere
Schönheit, die zu ergründe" freilich einiges Kunstverstäuduiß vorauszusetzen ist,
liegt in den Chorälen der Bach'schen Kirchenmusik, und vornämlich auch in denen
der Passionen. Sie sind eine Fundgrube von harmonischen Schönheiten, und bis
jetzt noch nicht übertroffen. Die Ausführung der Passtvnömusik am Charfreitage
ist auf sehr befriedigende Weise gelungen; besonders hervorzuheben ist das Ver¬
dienst des Tenoristen Schneider, der mit Sicherheit, Verständniß und gutem
Tone die schwierige Partie der Recitative vorgetragen hat.

Am Schlüsse bleiben noch zu^ erwähnen die musikalischen Abendunterhaltungen


nicht so lautern und ernsten Geistes zu nahen suchen, wie er es selbst als aus¬
übender Künstler immer gewesen. Wem es aber darum zu thun ist, ihn genauer
zu durchdringen und zu erfassen, findet gerade in den Passionsmusiken den besten
Weg dazu gebahnt. Die kleine Passion nach Johannes dient der größer» nach
Matthäus als treffliche Einführung. Die Behandlung der Recitative ist gleich
sorgfältig und dies ist eben kein kleiner Vorzug der Bach'schen Musik. Das
Recitativ, zu jener Zeit erst im Entstehe» begriffen, wurde nicht Note für Note
von dem Komponisten vorgeschrieben, man schrieb allein den bezifferten Baß, und
überließ es dem Sänger, die Worte nach den bezeichneten Harmonien zu reci-
tiren. Bach componirte die Recitative sehr sorgfältig, wie er sie gesungen
haben wollte, und sowol seine Declamation, als die harmonischen Grundlagen
sind musterhaft zu nennen. Die spätere Oratorienmufik hat hierin ihm viel ,
zu verdanken. Die Chöre der Johannispassion sind nur vierstimmig gesetzt,
während die des großen Matthäuswerkes für 8 Realstimmen oder 2 Chöre ge¬
schrieben sind. Die zweichörigen Stücke zeichnen sich durch Großartigkeit und
Pracht, die Chöre der kleinen Passton aber, so wie überhaupt die ganze dazu
gehörige Musik durch Einfachheit und größere Durchsichtigkeit aus. Der Arienstyl
Bach's ist ein eigenthümlicher. Es gab zu seiner Zeit noch wenig gute Muster,
die ihm zum Vorbild dienen konnten. Die Leistungen der neapolitanischen Schule,
welche für die Ausbildung der Arie sehr viel gethan hat, waren in Deutschland
noch wenig bekannt, und so war er genöthigt, ans sich selbst zu schöpfen. Wie
vorauszusetzen, unterließ er es, die Singstimme auf Kosten des harmonischen
Theils zu bevorzugen; seine Arien sind deshalb rein contrapunktische Gebilde, und
in ihnen liegt die Grundlage des spätern concertirenden Ariensthls, den wir bei Mozart
so vortrefflich ausgebildet finden. Die gleiche Betheiligung der Instrumente an
diesen Sätzen erschwert dem sichern Sänger den Vortrag, sie bedingt die präciseste
Ausführung, die dnrch eine solide musikalische Bildung nur getragen werden kann.
Wir wissen, wie wenig Sänger der neuern Zeit dieser Forderung entsprechen,
und so ist es erklärlich, daß man sie als unbrauchbar bei Seite geworfen hat.
Dazu kommt, daß es schwerer ist, die Gedanken und Empfindungen eines großen
Menschen wiederzugeben; bequemer ist es gewiß für ungebildete Künstler, Triviales
zu reproduciren, und damit die Gedankenlosigkeit zu unterlmlteu. Eine besondere
Schönheit, die zu ergründe» freilich einiges Kunstverstäuduiß vorauszusetzen ist,
liegt in den Chorälen der Bach'schen Kirchenmusik, und vornämlich auch in denen
der Passionen. Sie sind eine Fundgrube von harmonischen Schönheiten, und bis
jetzt noch nicht übertroffen. Die Ausführung der Passtvnömusik am Charfreitage
ist auf sehr befriedigende Weise gelungen; besonders hervorzuheben ist das Ver¬
dienst des Tenoristen Schneider, der mit Sicherheit, Verständniß und gutem
Tone die schwierige Partie der Recitative vorgetragen hat.

Am Schlüsse bleiben noch zu^ erwähnen die musikalischen Abendunterhaltungen


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[0274] nicht so lautern und ernsten Geistes zu nahen suchen, wie er es selbst als aus¬ übender Künstler immer gewesen. Wem es aber darum zu thun ist, ihn genauer zu durchdringen und zu erfassen, findet gerade in den Passionsmusiken den besten Weg dazu gebahnt. Die kleine Passion nach Johannes dient der größer» nach Matthäus als treffliche Einführung. Die Behandlung der Recitative ist gleich sorgfältig und dies ist eben kein kleiner Vorzug der Bach'schen Musik. Das Recitativ, zu jener Zeit erst im Entstehe» begriffen, wurde nicht Note für Note von dem Komponisten vorgeschrieben, man schrieb allein den bezifferten Baß, und überließ es dem Sänger, die Worte nach den bezeichneten Harmonien zu reci- tiren. Bach componirte die Recitative sehr sorgfältig, wie er sie gesungen haben wollte, und sowol seine Declamation, als die harmonischen Grundlagen sind musterhaft zu nennen. Die spätere Oratorienmufik hat hierin ihm viel , zu verdanken. Die Chöre der Johannispassion sind nur vierstimmig gesetzt, während die des großen Matthäuswerkes für 8 Realstimmen oder 2 Chöre ge¬ schrieben sind. Die zweichörigen Stücke zeichnen sich durch Großartigkeit und Pracht, die Chöre der kleinen Passton aber, so wie überhaupt die ganze dazu gehörige Musik durch Einfachheit und größere Durchsichtigkeit aus. Der Arienstyl Bach's ist ein eigenthümlicher. Es gab zu seiner Zeit noch wenig gute Muster, die ihm zum Vorbild dienen konnten. Die Leistungen der neapolitanischen Schule, welche für die Ausbildung der Arie sehr viel gethan hat, waren in Deutschland noch wenig bekannt, und so war er genöthigt, ans sich selbst zu schöpfen. Wie vorauszusetzen, unterließ er es, die Singstimme auf Kosten des harmonischen Theils zu bevorzugen; seine Arien sind deshalb rein contrapunktische Gebilde, und in ihnen liegt die Grundlage des spätern concertirenden Ariensthls, den wir bei Mozart so vortrefflich ausgebildet finden. Die gleiche Betheiligung der Instrumente an diesen Sätzen erschwert dem sichern Sänger den Vortrag, sie bedingt die präciseste Ausführung, die dnrch eine solide musikalische Bildung nur getragen werden kann. Wir wissen, wie wenig Sänger der neuern Zeit dieser Forderung entsprechen, und so ist es erklärlich, daß man sie als unbrauchbar bei Seite geworfen hat. Dazu kommt, daß es schwerer ist, die Gedanken und Empfindungen eines großen Menschen wiederzugeben; bequemer ist es gewiß für ungebildete Künstler, Triviales zu reproduciren, und damit die Gedankenlosigkeit zu unterlmlteu. Eine besondere Schönheit, die zu ergründe» freilich einiges Kunstverstäuduiß vorauszusetzen ist, liegt in den Chorälen der Bach'schen Kirchenmusik, und vornämlich auch in denen der Passionen. Sie sind eine Fundgrube von harmonischen Schönheiten, und bis jetzt noch nicht übertroffen. Die Ausführung der Passtvnömusik am Charfreitage ist auf sehr befriedigende Weise gelungen; besonders hervorzuheben ist das Ver¬ dienst des Tenoristen Schneider, der mit Sicherheit, Verständniß und gutem Tone die schwierige Partie der Recitative vorgetragen hat. Am Schlüsse bleiben noch zu^ erwähnen die musikalischen Abendunterhaltungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/274>, abgerufen am 24.07.2024.