Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Schumann anch hier wieder vermieden, die leichteren und erzählenden Stellen des
Textes rccitativisch zu behandeln, und es entspringen aus diesem Verfahren von
Neuem die schon früher angedeuteten Uebelstände. In "Paradies und Perl"
werden sie gemildert durch die Alles überragende poetische und musikalische Kraft
der Perl, hier aber tritt der entgegengesetzte Fall ein: die Partie des Röschens
tritt dichterisch, wie musikalisch in den Hintergrund, sie singt und spricht nicht,
daß einem das Herz aufgeht, und allem die mit Vorliebe und mit einer gewissen
Opulenz behandelten Chöre sind es, welche alle Aufmerksamkeit auf sich hinziehn,
und das arme, bescheidene Röschen gewissermaßen zu einer musikalischen Aschen¬
brödel machen, die in Melancholie und Unbedeutenden dahinstirbt.

Die Declamation der Worte darf nicht gerühmt werden. Schon in der
Perl kamen einzelne Verstöße zum Vorschein, aber sie betrafen nur Einzelheiten;
hier tritt uns aber häufig die Erscheinung entgegen, daß die Rhythmik der musi¬
kalischen Periode" sich wesentlich unterscheidet von der des Verses. Die Schwer¬
fälligkeit so vieler Stellen des Werth findet seine Ursache in diesem willkürlichen
Verfahren; man fühlt sich unbehaglich, wenn man der gewohnten und natürlichen
Weise entgegen, mit Angst daran denken muß, welchen sonderbaren Ausgang
dieser oder jener einfach begonnene Satz nehmen werde.

Das Requiem für Mignon wurde nnr einmal (1. Januar) aufgeführt,
deshalb ist es schwer, eine endgültige Ansicht mitzutheilen. Soviel ist gewiß,
daß die Aufgabe für den Komponisten die schwierigste war, denn es lassen sich
dem Texte nnr wenige musikalische Seiten abgewinnen. Schumann hat das
verständige Schaffen des Dichters nachgeahmt; wir hören eine verständige, durch
musikalische Accente unterstützte Declamation der Worte, dagegen mangelt der
Aufschwung der Musik zu begeisternden Motiven. Die wenigen Fälle, in denen
dies geschieht, haften nicht in der Erinnerung, und decken sich gegenseitig in ihrer
Gleichmäßigkeit. Dann mögen wir nicht verhehlen, daß uus die Darstellung und
die dazu verwendeten Mittel nicht die richtigen scheinen. Großer Chor und
volles Orchester, die kräftige, schwer accentuirte Ausdrucksweise entsprechen nicht
der von dem Dichter im Sinne der ganzen Figur gezeichneten Situation. -- Es
ist möglich, daß eine genauere Bekanntschaft mit dem Werke unsre Ansichten
einigermaßen modificirt, doch müssen wir gestehn, daß die Natur der neuesten
Werke Schumann's den erfahrenen Zuhörer abzuhalten pflegt, mit Begeisterung
und Hingebung zu hören und aufzunehmen, ihn vielmehr antreibt, alle Verstandes¬
thätigkeit aufzubieten, um in klarer Weise das Gebotene zu erfassen.

Schumann's neuste Symphonie (Ur. 3) in lZs aur besteht ans fünf
Sätzen mit folgenden Tempobczcichnungen: 1. Lebhaft. 2. Scherzo, sehr mäßig.
3. Nicht schnell. 4. Feierlich. S. Lebhaft, welche Ausdrücke in die gewohnte musi¬
kalische Nomenclatur übersetzt/VllsKro molto, Soter/v mvUo irwäerg,W, ^näariw,
6no<; und Vivac"; heißen würden. Die Symphonie ist diesen Winter drei Mal


Schumann anch hier wieder vermieden, die leichteren und erzählenden Stellen des
Textes rccitativisch zu behandeln, und es entspringen aus diesem Verfahren von
Neuem die schon früher angedeuteten Uebelstände. In „Paradies und Perl"
werden sie gemildert durch die Alles überragende poetische und musikalische Kraft
der Perl, hier aber tritt der entgegengesetzte Fall ein: die Partie des Röschens
tritt dichterisch, wie musikalisch in den Hintergrund, sie singt und spricht nicht,
daß einem das Herz aufgeht, und allem die mit Vorliebe und mit einer gewissen
Opulenz behandelten Chöre sind es, welche alle Aufmerksamkeit auf sich hinziehn,
und das arme, bescheidene Röschen gewissermaßen zu einer musikalischen Aschen¬
brödel machen, die in Melancholie und Unbedeutenden dahinstirbt.

Die Declamation der Worte darf nicht gerühmt werden. Schon in der
Perl kamen einzelne Verstöße zum Vorschein, aber sie betrafen nur Einzelheiten;
hier tritt uns aber häufig die Erscheinung entgegen, daß die Rhythmik der musi¬
kalischen Periode» sich wesentlich unterscheidet von der des Verses. Die Schwer¬
fälligkeit so vieler Stellen des Werth findet seine Ursache in diesem willkürlichen
Verfahren; man fühlt sich unbehaglich, wenn man der gewohnten und natürlichen
Weise entgegen, mit Angst daran denken muß, welchen sonderbaren Ausgang
dieser oder jener einfach begonnene Satz nehmen werde.

Das Requiem für Mignon wurde nnr einmal (1. Januar) aufgeführt,
deshalb ist es schwer, eine endgültige Ansicht mitzutheilen. Soviel ist gewiß,
daß die Aufgabe für den Komponisten die schwierigste war, denn es lassen sich
dem Texte nnr wenige musikalische Seiten abgewinnen. Schumann hat das
verständige Schaffen des Dichters nachgeahmt; wir hören eine verständige, durch
musikalische Accente unterstützte Declamation der Worte, dagegen mangelt der
Aufschwung der Musik zu begeisternden Motiven. Die wenigen Fälle, in denen
dies geschieht, haften nicht in der Erinnerung, und decken sich gegenseitig in ihrer
Gleichmäßigkeit. Dann mögen wir nicht verhehlen, daß uus die Darstellung und
die dazu verwendeten Mittel nicht die richtigen scheinen. Großer Chor und
volles Orchester, die kräftige, schwer accentuirte Ausdrucksweise entsprechen nicht
der von dem Dichter im Sinne der ganzen Figur gezeichneten Situation. — Es
ist möglich, daß eine genauere Bekanntschaft mit dem Werke unsre Ansichten
einigermaßen modificirt, doch müssen wir gestehn, daß die Natur der neuesten
Werke Schumann's den erfahrenen Zuhörer abzuhalten pflegt, mit Begeisterung
und Hingebung zu hören und aufzunehmen, ihn vielmehr antreibt, alle Verstandes¬
thätigkeit aufzubieten, um in klarer Weise das Gebotene zu erfassen.

Schumann's neuste Symphonie (Ur. 3) in lZs aur besteht ans fünf
Sätzen mit folgenden Tempobczcichnungen: 1. Lebhaft. 2. Scherzo, sehr mäßig.
3. Nicht schnell. 4. Feierlich. S. Lebhaft, welche Ausdrücke in die gewohnte musi¬
kalische Nomenclatur übersetzt/VllsKro molto, Soter/v mvUo irwäerg,W, ^näariw,
6no<; und Vivac«; heißen würden. Die Symphonie ist diesen Winter drei Mal


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0268" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/94169"/>
            <p xml:id="ID_734" prev="#ID_733"> Schumann anch hier wieder vermieden, die leichteren und erzählenden Stellen des<lb/>
Textes rccitativisch zu behandeln, und es entspringen aus diesem Verfahren von<lb/>
Neuem die schon früher angedeuteten Uebelstände. In &#x201E;Paradies und Perl"<lb/>
werden sie gemildert durch die Alles überragende poetische und musikalische Kraft<lb/>
der Perl, hier aber tritt der entgegengesetzte Fall ein: die Partie des Röschens<lb/>
tritt dichterisch, wie musikalisch in den Hintergrund, sie singt und spricht nicht,<lb/>
daß einem das Herz aufgeht, und allem die mit Vorliebe und mit einer gewissen<lb/>
Opulenz behandelten Chöre sind es, welche alle Aufmerksamkeit auf sich hinziehn,<lb/>
und das arme, bescheidene Röschen gewissermaßen zu einer musikalischen Aschen¬<lb/>
brödel machen, die in Melancholie und Unbedeutenden dahinstirbt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_735"> Die Declamation der Worte darf nicht gerühmt werden. Schon in der<lb/>
Perl kamen einzelne Verstöße zum Vorschein, aber sie betrafen nur Einzelheiten;<lb/>
hier tritt uns aber häufig die Erscheinung entgegen, daß die Rhythmik der musi¬<lb/>
kalischen Periode» sich wesentlich unterscheidet von der des Verses. Die Schwer¬<lb/>
fälligkeit so vieler Stellen des Werth findet seine Ursache in diesem willkürlichen<lb/>
Verfahren; man fühlt sich unbehaglich, wenn man der gewohnten und natürlichen<lb/>
Weise entgegen, mit Angst daran denken muß, welchen sonderbaren Ausgang<lb/>
dieser oder jener einfach begonnene Satz nehmen werde.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_736"> Das Requiem für Mignon wurde nnr einmal (1. Januar) aufgeführt,<lb/>
deshalb ist es schwer, eine endgültige Ansicht mitzutheilen. Soviel ist gewiß,<lb/>
daß die Aufgabe für den Komponisten die schwierigste war, denn es lassen sich<lb/>
dem Texte nnr wenige musikalische Seiten abgewinnen. Schumann hat das<lb/>
verständige Schaffen des Dichters nachgeahmt; wir hören eine verständige, durch<lb/>
musikalische Accente unterstützte Declamation der Worte, dagegen mangelt der<lb/>
Aufschwung der Musik zu begeisternden Motiven. Die wenigen Fälle, in denen<lb/>
dies geschieht, haften nicht in der Erinnerung, und decken sich gegenseitig in ihrer<lb/>
Gleichmäßigkeit. Dann mögen wir nicht verhehlen, daß uus die Darstellung und<lb/>
die dazu verwendeten Mittel nicht die richtigen scheinen. Großer Chor und<lb/>
volles Orchester, die kräftige, schwer accentuirte Ausdrucksweise entsprechen nicht<lb/>
der von dem Dichter im Sinne der ganzen Figur gezeichneten Situation. &#x2014; Es<lb/>
ist möglich, daß eine genauere Bekanntschaft mit dem Werke unsre Ansichten<lb/>
einigermaßen modificirt, doch müssen wir gestehn, daß die Natur der neuesten<lb/>
Werke Schumann's den erfahrenen Zuhörer abzuhalten pflegt, mit Begeisterung<lb/>
und Hingebung zu hören und aufzunehmen, ihn vielmehr antreibt, alle Verstandes¬<lb/>
thätigkeit aufzubieten, um in klarer Weise das Gebotene zu erfassen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_737" next="#ID_738"> Schumann's neuste Symphonie (Ur. 3) in lZs aur besteht ans fünf<lb/>
Sätzen mit folgenden Tempobczcichnungen: 1. Lebhaft. 2. Scherzo, sehr mäßig.<lb/>
3. Nicht schnell. 4. Feierlich. S. Lebhaft, welche Ausdrücke in die gewohnte musi¬<lb/>
kalische Nomenclatur übersetzt/VllsKro molto, Soter/v mvUo irwäerg,W, ^näariw,<lb/>
6no&lt;; und Vivac«; heißen würden. Die Symphonie ist diesen Winter drei Mal</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0268] Schumann anch hier wieder vermieden, die leichteren und erzählenden Stellen des Textes rccitativisch zu behandeln, und es entspringen aus diesem Verfahren von Neuem die schon früher angedeuteten Uebelstände. In „Paradies und Perl" werden sie gemildert durch die Alles überragende poetische und musikalische Kraft der Perl, hier aber tritt der entgegengesetzte Fall ein: die Partie des Röschens tritt dichterisch, wie musikalisch in den Hintergrund, sie singt und spricht nicht, daß einem das Herz aufgeht, und allem die mit Vorliebe und mit einer gewissen Opulenz behandelten Chöre sind es, welche alle Aufmerksamkeit auf sich hinziehn, und das arme, bescheidene Röschen gewissermaßen zu einer musikalischen Aschen¬ brödel machen, die in Melancholie und Unbedeutenden dahinstirbt. Die Declamation der Worte darf nicht gerühmt werden. Schon in der Perl kamen einzelne Verstöße zum Vorschein, aber sie betrafen nur Einzelheiten; hier tritt uns aber häufig die Erscheinung entgegen, daß die Rhythmik der musi¬ kalischen Periode» sich wesentlich unterscheidet von der des Verses. Die Schwer¬ fälligkeit so vieler Stellen des Werth findet seine Ursache in diesem willkürlichen Verfahren; man fühlt sich unbehaglich, wenn man der gewohnten und natürlichen Weise entgegen, mit Angst daran denken muß, welchen sonderbaren Ausgang dieser oder jener einfach begonnene Satz nehmen werde. Das Requiem für Mignon wurde nnr einmal (1. Januar) aufgeführt, deshalb ist es schwer, eine endgültige Ansicht mitzutheilen. Soviel ist gewiß, daß die Aufgabe für den Komponisten die schwierigste war, denn es lassen sich dem Texte nnr wenige musikalische Seiten abgewinnen. Schumann hat das verständige Schaffen des Dichters nachgeahmt; wir hören eine verständige, durch musikalische Accente unterstützte Declamation der Worte, dagegen mangelt der Aufschwung der Musik zu begeisternden Motiven. Die wenigen Fälle, in denen dies geschieht, haften nicht in der Erinnerung, und decken sich gegenseitig in ihrer Gleichmäßigkeit. Dann mögen wir nicht verhehlen, daß uus die Darstellung und die dazu verwendeten Mittel nicht die richtigen scheinen. Großer Chor und volles Orchester, die kräftige, schwer accentuirte Ausdrucksweise entsprechen nicht der von dem Dichter im Sinne der ganzen Figur gezeichneten Situation. — Es ist möglich, daß eine genauere Bekanntschaft mit dem Werke unsre Ansichten einigermaßen modificirt, doch müssen wir gestehn, daß die Natur der neuesten Werke Schumann's den erfahrenen Zuhörer abzuhalten pflegt, mit Begeisterung und Hingebung zu hören und aufzunehmen, ihn vielmehr antreibt, alle Verstandes¬ thätigkeit aufzubieten, um in klarer Weise das Gebotene zu erfassen. Schumann's neuste Symphonie (Ur. 3) in lZs aur besteht ans fünf Sätzen mit folgenden Tempobczcichnungen: 1. Lebhaft. 2. Scherzo, sehr mäßig. 3. Nicht schnell. 4. Feierlich. S. Lebhaft, welche Ausdrücke in die gewohnte musi¬ kalische Nomenclatur übersetzt/VllsKro molto, Soter/v mvUo irwäerg,W, ^näariw, 6no<; und Vivac«; heißen würden. Die Symphonie ist diesen Winter drei Mal

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/268
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/268>, abgerufen am 24.07.2024.