Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sich Wilhelm Meister vor, nehme ihm den besten Zug seines Charakters, die em¬
pfängliche, gläubige, andächtige Hingebung an jede Form der Erscheinung, und
ersehe diesen Zug durch den des hochmütigsten Dünkels, so hat man den Her¬
mann der Epigonen, das Ideal Immermann's, den Vater der Ritter vom Geist.

In der charakteristischen Darstellung einzelner Seiten des menschlichen Lebens,
namentlich seiner Schattenseiten, hat der Roman vieles Verdienst und ist darin,
mit den Werken der neuesten englischen Novellisten zu vergleichen, die von einer
ähnlichen trübseligen Stimmung ausgehen. Die Hauptsache bleibt aber doch,
daß wir ihn nicht als ein Kunstwerk, sondern als ein Naturproduct betrachten,
aus dem wir die falschen Götzenbilder der damaligen Bildung erkennen und uns
an ihnen ein warnendes Beispiel nehmen können. Es ist darin concentrirt, was
wir in der "Wally", der "Seraphine", dem "jungen Europa" von Laube, dem
"Haus Düstcrweg" von Wilibald Alexis und ähnlichen Dichtungen zerstreut
suchen müssen. Wenn viele von den gleichzeitigen Novellen von Tieck mit gleicher
Bitterkeit den Geist des Zeitalters bekämpfen, so ist doch ein gewaltiger Unter¬
schied darin. Tieck geht in seiner Polemik immer von einem sehr bestimmten
übersichtlichen Gesichtspunkt aus, und so einseitig und unhaltbar dieser auch in
vielen Fällen sein mag, wir wissen doch stets warum wir uns eigentlich an dem
Zeitalter ärgern sollen. Bei Immermann aber fehlt uns jeder Anhaltepunkt, der
den Dichter von seinem Gegenstände unterschiede, und wir kommen uns vor, wie
in der Gesellschaft jenes Tollen, der seinen Mittollen wegen der Einbildung ver¬
achtete, Gott der Sohn zu sei", weil er selber als Gott der Vater von der Un-
haltbarkeit dieser Prätenston überzeugt sein mußte.

Indem letzten Roman: "Münchhausen" (1838 -1839) findet sich ein
sehr wesentlicher Fortschritt. Immermann hat sich in der Welt umgesehen und
gefunden, daß es noch eine Stelle gebe, die von der allgemeinen Lüge, Heuchelei,
.Ohnmacht und Wahnwitzigkcit unberührt geblieben sei. So stellt er nun sein
neues Gemälde aus zwei Bildern zusammen, in deren einem aller Schatten, in
dem andern alles Licht concentrirt wird. Der Wahnsinn und die Hohlheit des
Zeitalters hat sich zu einer einzelnen Figur verdichtet, und eben so der Rest von
Naturkraft, der in unsrer Welt noch übrig geblieben ist. Münchhausen ist die Jn-
carnation des modernen Lügengeistes. Er hat aber mit seinem angeblichen Vater nicht
die geringste Familienähnlichkeit. An dem wirklichen Münchhausen, wie in höherm
Grade an FallstHf, erfreut uns die vollständige Freiheit, Unbefangenheit und
Behaglichkeit, mit der die Heiligthümer der Well zum Spiel herabgesetzt werden,
und der unverwüstliche Humor, mit dem man sein eigenes Nichts erträgt. Von
diesem Behagen ist bei dem jüngern Münchhausen keine Spur. Er strengt sich
zu den unerhörtesten Erfindungen an, aber diese sind so wenig komisch, wie es
die bloßen Combinationen des Witzes überhaupt sein können; man muß seine
Aufmerksamkeit zusammennehmen, um ihnen zu folgen, und wird dabei sehr bald


sich Wilhelm Meister vor, nehme ihm den besten Zug seines Charakters, die em¬
pfängliche, gläubige, andächtige Hingebung an jede Form der Erscheinung, und
ersehe diesen Zug durch den des hochmütigsten Dünkels, so hat man den Her¬
mann der Epigonen, das Ideal Immermann's, den Vater der Ritter vom Geist.

In der charakteristischen Darstellung einzelner Seiten des menschlichen Lebens,
namentlich seiner Schattenseiten, hat der Roman vieles Verdienst und ist darin,
mit den Werken der neuesten englischen Novellisten zu vergleichen, die von einer
ähnlichen trübseligen Stimmung ausgehen. Die Hauptsache bleibt aber doch,
daß wir ihn nicht als ein Kunstwerk, sondern als ein Naturproduct betrachten,
aus dem wir die falschen Götzenbilder der damaligen Bildung erkennen und uns
an ihnen ein warnendes Beispiel nehmen können. Es ist darin concentrirt, was
wir in der „Wally", der „Seraphine", dem „jungen Europa" von Laube, dem
„Haus Düstcrweg" von Wilibald Alexis und ähnlichen Dichtungen zerstreut
suchen müssen. Wenn viele von den gleichzeitigen Novellen von Tieck mit gleicher
Bitterkeit den Geist des Zeitalters bekämpfen, so ist doch ein gewaltiger Unter¬
schied darin. Tieck geht in seiner Polemik immer von einem sehr bestimmten
übersichtlichen Gesichtspunkt aus, und so einseitig und unhaltbar dieser auch in
vielen Fällen sein mag, wir wissen doch stets warum wir uns eigentlich an dem
Zeitalter ärgern sollen. Bei Immermann aber fehlt uns jeder Anhaltepunkt, der
den Dichter von seinem Gegenstände unterschiede, und wir kommen uns vor, wie
in der Gesellschaft jenes Tollen, der seinen Mittollen wegen der Einbildung ver¬
achtete, Gott der Sohn zu sei», weil er selber als Gott der Vater von der Un-
haltbarkeit dieser Prätenston überzeugt sein mußte.

Indem letzten Roman: „Münchhausen" (1838 -1839) findet sich ein
sehr wesentlicher Fortschritt. Immermann hat sich in der Welt umgesehen und
gefunden, daß es noch eine Stelle gebe, die von der allgemeinen Lüge, Heuchelei,
.Ohnmacht und Wahnwitzigkcit unberührt geblieben sei. So stellt er nun sein
neues Gemälde aus zwei Bildern zusammen, in deren einem aller Schatten, in
dem andern alles Licht concentrirt wird. Der Wahnsinn und die Hohlheit des
Zeitalters hat sich zu einer einzelnen Figur verdichtet, und eben so der Rest von
Naturkraft, der in unsrer Welt noch übrig geblieben ist. Münchhausen ist die Jn-
carnation des modernen Lügengeistes. Er hat aber mit seinem angeblichen Vater nicht
die geringste Familienähnlichkeit. An dem wirklichen Münchhausen, wie in höherm
Grade an FallstHf, erfreut uns die vollständige Freiheit, Unbefangenheit und
Behaglichkeit, mit der die Heiligthümer der Well zum Spiel herabgesetzt werden,
und der unverwüstliche Humor, mit dem man sein eigenes Nichts erträgt. Von
diesem Behagen ist bei dem jüngern Münchhausen keine Spur. Er strengt sich
zu den unerhörtesten Erfindungen an, aber diese sind so wenig komisch, wie es
die bloßen Combinationen des Witzes überhaupt sein können; man muß seine
Aufmerksamkeit zusammennehmen, um ihnen zu folgen, und wird dabei sehr bald


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0223" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/94124"/>
            <p xml:id="ID_616" prev="#ID_615"> sich Wilhelm Meister vor, nehme ihm den besten Zug seines Charakters, die em¬<lb/>
pfängliche, gläubige, andächtige Hingebung an jede Form der Erscheinung, und<lb/>
ersehe diesen Zug durch den des hochmütigsten Dünkels, so hat man den Her¬<lb/>
mann der Epigonen, das Ideal Immermann's, den Vater der Ritter vom Geist.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_617"> In der charakteristischen Darstellung einzelner Seiten des menschlichen Lebens,<lb/>
namentlich seiner Schattenseiten, hat der Roman vieles Verdienst und ist darin,<lb/>
mit den Werken der neuesten englischen Novellisten zu vergleichen, die von einer<lb/>
ähnlichen trübseligen Stimmung ausgehen. Die Hauptsache bleibt aber doch,<lb/>
daß wir ihn nicht als ein Kunstwerk, sondern als ein Naturproduct betrachten,<lb/>
aus dem wir die falschen Götzenbilder der damaligen Bildung erkennen und uns<lb/>
an ihnen ein warnendes Beispiel nehmen können. Es ist darin concentrirt, was<lb/>
wir in der &#x201E;Wally", der &#x201E;Seraphine", dem &#x201E;jungen Europa" von Laube, dem<lb/>
&#x201E;Haus Düstcrweg" von Wilibald Alexis und ähnlichen Dichtungen zerstreut<lb/>
suchen müssen. Wenn viele von den gleichzeitigen Novellen von Tieck mit gleicher<lb/>
Bitterkeit den Geist des Zeitalters bekämpfen, so ist doch ein gewaltiger Unter¬<lb/>
schied darin. Tieck geht in seiner Polemik immer von einem sehr bestimmten<lb/>
übersichtlichen Gesichtspunkt aus, und so einseitig und unhaltbar dieser auch in<lb/>
vielen Fällen sein mag, wir wissen doch stets warum wir uns eigentlich an dem<lb/>
Zeitalter ärgern sollen. Bei Immermann aber fehlt uns jeder Anhaltepunkt, der<lb/>
den Dichter von seinem Gegenstände unterschiede, und wir kommen uns vor, wie<lb/>
in der Gesellschaft jenes Tollen, der seinen Mittollen wegen der Einbildung ver¬<lb/>
achtete, Gott der Sohn zu sei», weil er selber als Gott der Vater von der Un-<lb/>
haltbarkeit dieser Prätenston überzeugt sein mußte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_618" next="#ID_619"> Indem letzten Roman: &#x201E;Münchhausen" (1838 -1839) findet sich ein<lb/>
sehr wesentlicher Fortschritt. Immermann hat sich in der Welt umgesehen und<lb/>
gefunden, daß es noch eine Stelle gebe, die von der allgemeinen Lüge, Heuchelei,<lb/>
.Ohnmacht und Wahnwitzigkcit unberührt geblieben sei. So stellt er nun sein<lb/>
neues Gemälde aus zwei Bildern zusammen, in deren einem aller Schatten, in<lb/>
dem andern alles Licht concentrirt wird. Der Wahnsinn und die Hohlheit des<lb/>
Zeitalters hat sich zu einer einzelnen Figur verdichtet, und eben so der Rest von<lb/>
Naturkraft, der in unsrer Welt noch übrig geblieben ist. Münchhausen ist die Jn-<lb/>
carnation des modernen Lügengeistes. Er hat aber mit seinem angeblichen Vater nicht<lb/>
die geringste Familienähnlichkeit. An dem wirklichen Münchhausen, wie in höherm<lb/>
Grade an FallstHf, erfreut uns die vollständige Freiheit, Unbefangenheit und<lb/>
Behaglichkeit, mit der die Heiligthümer der Well zum Spiel herabgesetzt werden,<lb/>
und der unverwüstliche Humor, mit dem man sein eigenes Nichts erträgt. Von<lb/>
diesem Behagen ist bei dem jüngern Münchhausen keine Spur. Er strengt sich<lb/>
zu den unerhörtesten Erfindungen an, aber diese sind so wenig komisch, wie es<lb/>
die bloßen Combinationen des Witzes überhaupt sein können; man muß seine<lb/>
Aufmerksamkeit zusammennehmen, um ihnen zu folgen, und wird dabei sehr bald</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0223] sich Wilhelm Meister vor, nehme ihm den besten Zug seines Charakters, die em¬ pfängliche, gläubige, andächtige Hingebung an jede Form der Erscheinung, und ersehe diesen Zug durch den des hochmütigsten Dünkels, so hat man den Her¬ mann der Epigonen, das Ideal Immermann's, den Vater der Ritter vom Geist. In der charakteristischen Darstellung einzelner Seiten des menschlichen Lebens, namentlich seiner Schattenseiten, hat der Roman vieles Verdienst und ist darin, mit den Werken der neuesten englischen Novellisten zu vergleichen, die von einer ähnlichen trübseligen Stimmung ausgehen. Die Hauptsache bleibt aber doch, daß wir ihn nicht als ein Kunstwerk, sondern als ein Naturproduct betrachten, aus dem wir die falschen Götzenbilder der damaligen Bildung erkennen und uns an ihnen ein warnendes Beispiel nehmen können. Es ist darin concentrirt, was wir in der „Wally", der „Seraphine", dem „jungen Europa" von Laube, dem „Haus Düstcrweg" von Wilibald Alexis und ähnlichen Dichtungen zerstreut suchen müssen. Wenn viele von den gleichzeitigen Novellen von Tieck mit gleicher Bitterkeit den Geist des Zeitalters bekämpfen, so ist doch ein gewaltiger Unter¬ schied darin. Tieck geht in seiner Polemik immer von einem sehr bestimmten übersichtlichen Gesichtspunkt aus, und so einseitig und unhaltbar dieser auch in vielen Fällen sein mag, wir wissen doch stets warum wir uns eigentlich an dem Zeitalter ärgern sollen. Bei Immermann aber fehlt uns jeder Anhaltepunkt, der den Dichter von seinem Gegenstände unterschiede, und wir kommen uns vor, wie in der Gesellschaft jenes Tollen, der seinen Mittollen wegen der Einbildung ver¬ achtete, Gott der Sohn zu sei», weil er selber als Gott der Vater von der Un- haltbarkeit dieser Prätenston überzeugt sein mußte. Indem letzten Roman: „Münchhausen" (1838 -1839) findet sich ein sehr wesentlicher Fortschritt. Immermann hat sich in der Welt umgesehen und gefunden, daß es noch eine Stelle gebe, die von der allgemeinen Lüge, Heuchelei, .Ohnmacht und Wahnwitzigkcit unberührt geblieben sei. So stellt er nun sein neues Gemälde aus zwei Bildern zusammen, in deren einem aller Schatten, in dem andern alles Licht concentrirt wird. Der Wahnsinn und die Hohlheit des Zeitalters hat sich zu einer einzelnen Figur verdichtet, und eben so der Rest von Naturkraft, der in unsrer Welt noch übrig geblieben ist. Münchhausen ist die Jn- carnation des modernen Lügengeistes. Er hat aber mit seinem angeblichen Vater nicht die geringste Familienähnlichkeit. An dem wirklichen Münchhausen, wie in höherm Grade an FallstHf, erfreut uns die vollständige Freiheit, Unbefangenheit und Behaglichkeit, mit der die Heiligthümer der Well zum Spiel herabgesetzt werden, und der unverwüstliche Humor, mit dem man sein eigenes Nichts erträgt. Von diesem Behagen ist bei dem jüngern Münchhausen keine Spur. Er strengt sich zu den unerhörtesten Erfindungen an, aber diese sind so wenig komisch, wie es die bloßen Combinationen des Witzes überhaupt sein können; man muß seine Aufmerksamkeit zusammennehmen, um ihnen zu folgen, und wird dabei sehr bald

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/223
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/223>, abgerufen am 24.07.2024.