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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Epigonen" (1833) diese allgemeine Verstimmung in der Seele des Dichters
so vorherrschend, daß die ganze Welt, die er anschaut, eine trübe und düstere
Färbung annimmt.

Der Roman hat eine directe Beziehung zu "Wilhelm Meister". Wie dieser,
stellt er sich die Aufgabe, die gute Gesellschaft der damaligen Zeit in ihrer To¬
talität zu schildern. Fast die sämmtlichen Personen des Wilhelm Meister treten
wieder auf, in ganz unbedeutenden Verkleidungen, aber jede mit einem häßlichen,
entstellenden Zug im Gesicht, der ihr das Ansehen einer Fratze giebt. Auch der
Goethe'sche Styl der späteren Periode findet sich wieder, nur gemischt mit Jean
Paul'sehen Formen, die Immermann in seinen früheren novellistischen Versuchen
("die Pcipierscuster eines Eremiten", 1822, u. s. w.), Versuche, die ihrer gänzlichen
Werthlosigkeit wegen keine weitere Erwähnung verdienen, ausschließlich angebaut
hatte. Wir müssen gestehen, daß wir nicht leicht ein Werk kennen, welches so
entschieden zur Travestie herausfordert, als Wilhelm Meister. Man darf die klein¬
lichen Züge uur durch etwas stärkere Striche hervorheben, um eine Caricatur
daraus zu" machen. Aber Goethe's Hauptverdienst hatte eben darin bestanden,
daß er das nicht gethan, daß er sich vielmehr in dieser, freilich nicht ganz muster¬
haften Welt mit jener lebensvollen Heiterkeit und jener anmuthigen Würde bewegte,
die der Ausfluß vollendeter Bildung ist. Ein reines Dichterange verklärt auch
die unbedeutenden Gegenstände, indem es sie anschaut; wenn man aber die
nämlichen Gegenstände durch ein trüb gefärbtes Glas betrachtet, so entsteht eine
Welt daraus, von der man nicht begreift, warum sie der Dichter überhaupt
darstellt. -

Aehnlich wie die "Ritter vom Geist," als deren Vorläufer man ihn betrach¬
ten kann, soll der Roman die Gebrochenheit der damaligen Zustände in der Ge¬
brochenheit der einzelnen Charaktere analysiren. Er hat es fast ausschließlich
mit Personen zu thun, die mit einem Fuß bereits im Irrenhaus stehen. Ent¬
weder wissen sie überhaupt nicht, was sie wollen, und schweben dieser Ungewi߬
heit wegen in einer beständigen qualvollen und langweiligen Angst, oder sie sind
vollständig in eine fixe Idee verloren. Wenn Immermann einmal einen Cha¬
rakter in die Scene führt, bei dessen erster Erscheinung man aufathmet, indem
man hofft, dieser werde sich doch endlich benehmen, wie verständige Menschen
sich zu benehmen pflegen, z. B. Hermann's Onkel, oder selbst Medon, so wird
man sehr bald belehrt, daß diese gebildete Außenseite nur der Deckmantel für
eine übermenschliche innere Fäulniß ist. Ich kenne kein poetisches Werk, in dem
sich die gänzliche Hoffnungslosigkeit in so wüsten und greulichen Bildern ergeht;
man ist froh, wenn nur irgend eine der Personen beseitigt ist, sei es auch im
Irrenhaus oder im schmuzigen Selbstmord. Der Held freilich bleibt übrig und
heirathet zuletzt ein vortreffliches Mädchen, aber das ist ein schlechter Trost, denn
gerade er ist unter allen mithandelnden Personen die unerträglichste. Man stelle


Epigonen" (1833) diese allgemeine Verstimmung in der Seele des Dichters
so vorherrschend, daß die ganze Welt, die er anschaut, eine trübe und düstere
Färbung annimmt.

Der Roman hat eine directe Beziehung zu „Wilhelm Meister". Wie dieser,
stellt er sich die Aufgabe, die gute Gesellschaft der damaligen Zeit in ihrer To¬
talität zu schildern. Fast die sämmtlichen Personen des Wilhelm Meister treten
wieder auf, in ganz unbedeutenden Verkleidungen, aber jede mit einem häßlichen,
entstellenden Zug im Gesicht, der ihr das Ansehen einer Fratze giebt. Auch der
Goethe'sche Styl der späteren Periode findet sich wieder, nur gemischt mit Jean
Paul'sehen Formen, die Immermann in seinen früheren novellistischen Versuchen
(„die Pcipierscuster eines Eremiten", 1822, u. s. w.), Versuche, die ihrer gänzlichen
Werthlosigkeit wegen keine weitere Erwähnung verdienen, ausschließlich angebaut
hatte. Wir müssen gestehen, daß wir nicht leicht ein Werk kennen, welches so
entschieden zur Travestie herausfordert, als Wilhelm Meister. Man darf die klein¬
lichen Züge uur durch etwas stärkere Striche hervorheben, um eine Caricatur
daraus zu« machen. Aber Goethe's Hauptverdienst hatte eben darin bestanden,
daß er das nicht gethan, daß er sich vielmehr in dieser, freilich nicht ganz muster¬
haften Welt mit jener lebensvollen Heiterkeit und jener anmuthigen Würde bewegte,
die der Ausfluß vollendeter Bildung ist. Ein reines Dichterange verklärt auch
die unbedeutenden Gegenstände, indem es sie anschaut; wenn man aber die
nämlichen Gegenstände durch ein trüb gefärbtes Glas betrachtet, so entsteht eine
Welt daraus, von der man nicht begreift, warum sie der Dichter überhaupt
darstellt. -

Aehnlich wie die „Ritter vom Geist," als deren Vorläufer man ihn betrach¬
ten kann, soll der Roman die Gebrochenheit der damaligen Zustände in der Ge¬
brochenheit der einzelnen Charaktere analysiren. Er hat es fast ausschließlich
mit Personen zu thun, die mit einem Fuß bereits im Irrenhaus stehen. Ent¬
weder wissen sie überhaupt nicht, was sie wollen, und schweben dieser Ungewi߬
heit wegen in einer beständigen qualvollen und langweiligen Angst, oder sie sind
vollständig in eine fixe Idee verloren. Wenn Immermann einmal einen Cha¬
rakter in die Scene führt, bei dessen erster Erscheinung man aufathmet, indem
man hofft, dieser werde sich doch endlich benehmen, wie verständige Menschen
sich zu benehmen pflegen, z. B. Hermann's Onkel, oder selbst Medon, so wird
man sehr bald belehrt, daß diese gebildete Außenseite nur der Deckmantel für
eine übermenschliche innere Fäulniß ist. Ich kenne kein poetisches Werk, in dem
sich die gänzliche Hoffnungslosigkeit in so wüsten und greulichen Bildern ergeht;
man ist froh, wenn nur irgend eine der Personen beseitigt ist, sei es auch im
Irrenhaus oder im schmuzigen Selbstmord. Der Held freilich bleibt übrig und
heirathet zuletzt ein vortreffliches Mädchen, aber das ist ein schlechter Trost, denn
gerade er ist unter allen mithandelnden Personen die unerträglichste. Man stelle


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/222>, abgerufen am 24.07.2024.