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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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eine Barbarei begeht, im Uebrigen ein ausgezeichneter und verdienter Mann
war, kann uns nicht bestechen. Wenn trotzdem seine Handlungsweise mit unsrer
Vorstellung von einem großen und edlen Charakter in Einklang gesetzt, wenn
sie unsrem persönlichen Gefühl verständlich gemacht werden soll, so kann dies
nur dadurch geschehen, daß der Dichter ihn idealisirt, d. h. daß er unser Be¬
wußtsein über die Berechtigung seines Charakters im Verhältniß zu seiner Zeit
und seiner Bestimmung, das auch leidenschaftliche Uebertreibungen entschuldigt,
weil in ihnen zugleich seine Stärke liegt, in das Bewußtsein des Helden ver¬
legt; dadurch wird aber weder der Geschichte noch dem Drama gedient. Ans
eine ganz ähnliche Weise hat Laube in seinem "Prinz Frie'trieb" und in seinen
"Karlschülern" historische Urtheile zum Schaden der innern dramatischen Wahr¬
heit anticipirt. Wenn der Herzog von Württemberg den jungen Dichter, der
sich nicht seinen pedantischen Regeln fügen will, verfolgt, und wenn König
Friedrich Wilhelm I. seinen großen Sohn als Empörer gegen die Subordi¬
nation auf das Schaffst schicken will, so wird unser natürliches Gefühl dadurch
empört und steht ganz entschieden auf Seite des Genius, auf Seite des Ver¬
folgten. Nachher kommt allerdings die Verstandesreflexion hinzu, und wir sagen,
uns, daß auch die andere Seite ihre Berechtigung hat, daß die eiserne Zucht,
die strenge, fast pedantische Gesetzlichkeit eines Friedrich Wilhelm 'nothwendig
waren, um einen im Werden begriffenen Staatsorganismus zu consolidiren, und
daß, wenn wir diesen Geist im Ganzen als nothwendig begreifen, wir auch seine
Folgen im Einzelnen ertragen müssen. Das alles ist ganz richtig. Aber wenn
wir dann weiter gehen, wenn wir dem strengen Vater ein Bewußtsein über sei¬
nen Beruf verleihen, und ihn den einzelnen Fall mit kalter Reflexion unter die
allgemeine Regel subsumiren lassen, so heben wir dadurch die Wahrheit auf,
ohne daß diese Fiction unsrem Gefühl zu Gute kommt. Denn wenn eine leiden¬
schaftliche Natur, die im Uebrigen an ihrem Platze ist, im einzelnen Falle zu
roher Gewaltthat verleitet wird, so müssen wir das gelten lassen; wenn aber die
Rohheit aus einer philosophischen Reflexion hergeleitet wird, wenn der Held mit
weinenden Augen seine Grenelthat begeht, weil er es für^seine Pflicht hält, so
werden wir empört, und mit Recht, denn der kategorische Imperativ ist unpoetisch
und vorzugsweise undramatisch, weil die Poesie nur an der Totalität des Men¬
schen, nicht an Abstractionen ihre Frende haben kann. Wenn also Immermann
seinen Peter den Großen in seinen Formen humanisirt und alle Spuren seiner
wilden, halbbestialiscken Natur sorgfältig ausgetilgt hat, so ist diese Metamor¬
phose nur ans den Verstand, nicht ans das Gefühl berechnet. Wir können die
Empfindung,nicht los werden, daß die hohe Verstandes- und Gefühlsbildung
des Helden, die sich zuweilen bis zu Subtilitäten versteigt, der naturwüchsigen
rohen Kraft seines Handelns widerspricht. Denselben Fehler haben wir an
den neuesten englischen Dramatikern gerügt, die gern den Charakter eines Hamlet


Grenzboten. II. 1862. 27

eine Barbarei begeht, im Uebrigen ein ausgezeichneter und verdienter Mann
war, kann uns nicht bestechen. Wenn trotzdem seine Handlungsweise mit unsrer
Vorstellung von einem großen und edlen Charakter in Einklang gesetzt, wenn
sie unsrem persönlichen Gefühl verständlich gemacht werden soll, so kann dies
nur dadurch geschehen, daß der Dichter ihn idealisirt, d. h. daß er unser Be¬
wußtsein über die Berechtigung seines Charakters im Verhältniß zu seiner Zeit
und seiner Bestimmung, das auch leidenschaftliche Uebertreibungen entschuldigt,
weil in ihnen zugleich seine Stärke liegt, in das Bewußtsein des Helden ver¬
legt; dadurch wird aber weder der Geschichte noch dem Drama gedient. Ans
eine ganz ähnliche Weise hat Laube in seinem „Prinz Frie'trieb" und in seinen
„Karlschülern" historische Urtheile zum Schaden der innern dramatischen Wahr¬
heit anticipirt. Wenn der Herzog von Württemberg den jungen Dichter, der
sich nicht seinen pedantischen Regeln fügen will, verfolgt, und wenn König
Friedrich Wilhelm I. seinen großen Sohn als Empörer gegen die Subordi¬
nation auf das Schaffst schicken will, so wird unser natürliches Gefühl dadurch
empört und steht ganz entschieden auf Seite des Genius, auf Seite des Ver¬
folgten. Nachher kommt allerdings die Verstandesreflexion hinzu, und wir sagen,
uns, daß auch die andere Seite ihre Berechtigung hat, daß die eiserne Zucht,
die strenge, fast pedantische Gesetzlichkeit eines Friedrich Wilhelm 'nothwendig
waren, um einen im Werden begriffenen Staatsorganismus zu consolidiren, und
daß, wenn wir diesen Geist im Ganzen als nothwendig begreifen, wir auch seine
Folgen im Einzelnen ertragen müssen. Das alles ist ganz richtig. Aber wenn
wir dann weiter gehen, wenn wir dem strengen Vater ein Bewußtsein über sei¬
nen Beruf verleihen, und ihn den einzelnen Fall mit kalter Reflexion unter die
allgemeine Regel subsumiren lassen, so heben wir dadurch die Wahrheit auf,
ohne daß diese Fiction unsrem Gefühl zu Gute kommt. Denn wenn eine leiden¬
schaftliche Natur, die im Uebrigen an ihrem Platze ist, im einzelnen Falle zu
roher Gewaltthat verleitet wird, so müssen wir das gelten lassen; wenn aber die
Rohheit aus einer philosophischen Reflexion hergeleitet wird, wenn der Held mit
weinenden Augen seine Grenelthat begeht, weil er es für^seine Pflicht hält, so
werden wir empört, und mit Recht, denn der kategorische Imperativ ist unpoetisch
und vorzugsweise undramatisch, weil die Poesie nur an der Totalität des Men¬
schen, nicht an Abstractionen ihre Frende haben kann. Wenn also Immermann
seinen Peter den Großen in seinen Formen humanisirt und alle Spuren seiner
wilden, halbbestialiscken Natur sorgfältig ausgetilgt hat, so ist diese Metamor¬
phose nur ans den Verstand, nicht ans das Gefühl berechnet. Wir können die
Empfindung,nicht los werden, daß die hohe Verstandes- und Gefühlsbildung
des Helden, die sich zuweilen bis zu Subtilitäten versteigt, der naturwüchsigen
rohen Kraft seines Handelns widerspricht. Denselben Fehler haben wir an
den neuesten englischen Dramatikern gerügt, die gern den Charakter eines Hamlet


Grenzboten. II. 1862. 27
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/219>, abgerufen am 24.07.2024.