Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

und den eines Richard III. "erschmelzen möchten. Sehen wir aber von dieser
krankhaften Anlage ab, so können wir dem Stück in vieler Beziehung unsre
warme Anerkennung nicht versagen. Die Sprache ist ernst und würdig, ti,e
Charaktere gewissenhaft ausgeführt und wenigstens in einzelnen Momenten die
poetische Intention zum vollsten dramatischen Leben durchgebildet. Es ist darum zu
bedauern, daß Immermann sich nicht zu einer größern Concentration hat entschließen
können. Die Form einer Trilogie ist für unser'Theater unbrauchbar; und doch
ist von den drei Theilen des Gedichts keiner zu entbehren, am wenigsten der
letzte, in dem an dem Helden poetische Gerechtigkeit ausgeübt wird. Der stolze
Selbstherrscher, der überall das Geschick mit klarem Bewußtsein nach seinem
eisernen Willen zu lenken glaubte, muß erkennen, daß er der Spielball deS
gemeinsten Ehrgeizes gewesen ist. Ob es möglich sein würde, durch Zusammen¬
ziehung und Ausmerzung das Stück für unser Theater zu gewinnen, lassen wir
dahin gestellt sein. Schon die metrische Form des letzten Theils würde einem
solchen Unternehmen große Schwierigkeiten in den Weg setzen. Dennoch wäre
um der einzelnen, meisterhaft ausgeführten selten willen die Sache des Ver¬
suchs werth.

Uebrigens finden wir diese Vorliebe für große energische Naturen, die mit
der Welt ein frevelhaftes Spiel treiben, weil sie keinen Gegenstand finden, den
sie achten können, auch in Immermann's Gedichten wieder, wo unter Anderem
Napoleons Schatten mit bitterem Hohne Gott zur Rechenschaft zieht, daß er ihn
gestürzt habe um der armseligen Zwerge willen, die so gemein sind ihn zu be¬
wundern, obgleich er sie mit Füßen getreten hat. Deutlicher konnte der Conflict
im Innern des Dichters selbst nicht ausgedrückt werden.

Sehr hochfligende Pläne hat der Dichter mit seinem "Merlin" gehabt l,1834),
einer weltumspannenden mystisch-satyrischen Tragödie nach dem Vorbild des Faust.
"Merlin sollte die Tragödie des Widerspruchs werden. Die göttlichen Dinge, wenn
sie in die Erscheinung treten, zerbrechen, decomponiren sich an derselben. Selbst das
religiöse Gefühl unterliegt diesem Gesetz. Nur binnen gewisser Schranken wird es
uicht zur Caricatur, bleibt dann aber anch freilich jenseit der vollen Erscheinung
stehn. Will es in diese übergehn, so macht es Fanatiker, Bigotte. Ich zweifle,
daß irgend ein Heiliger vom Lächerlichen sich ganz frei gehalten hat. Diese Be¬
trachtungen faßte ich im Merlin sublimirt, vergeistigt. Der Sohn Satans und
der Jungfrau, andachttrunken, fällt auf dem Wege zu Gott in den jämmer¬
lichsten Wahnwitz." ^ Trotz dieser hohen Intention und trotz der mannichfaltigen
Anspielungen', die alle irgend nennenswerthen Fragen der damaligen Literatur
und Sitte berühren, zum Theil nicht ohne Geist, erregt das Gedicht seiner ab¬
soluten Formlosigkeit wegen die entschiedenste Langeweile. Aber es ist charakte¬
ristisch für den Uebergang zur jungdeutschen Auffassung des Lebens, zu jener Poesie
des Contrastes, die in ihren Irrfahrten nicht nach einem bestimmten, festen Ziele


und den eines Richard III. »erschmelzen möchten. Sehen wir aber von dieser
krankhaften Anlage ab, so können wir dem Stück in vieler Beziehung unsre
warme Anerkennung nicht versagen. Die Sprache ist ernst und würdig, ti,e
Charaktere gewissenhaft ausgeführt und wenigstens in einzelnen Momenten die
poetische Intention zum vollsten dramatischen Leben durchgebildet. Es ist darum zu
bedauern, daß Immermann sich nicht zu einer größern Concentration hat entschließen
können. Die Form einer Trilogie ist für unser'Theater unbrauchbar; und doch
ist von den drei Theilen des Gedichts keiner zu entbehren, am wenigsten der
letzte, in dem an dem Helden poetische Gerechtigkeit ausgeübt wird. Der stolze
Selbstherrscher, der überall das Geschick mit klarem Bewußtsein nach seinem
eisernen Willen zu lenken glaubte, muß erkennen, daß er der Spielball deS
gemeinsten Ehrgeizes gewesen ist. Ob es möglich sein würde, durch Zusammen¬
ziehung und Ausmerzung das Stück für unser Theater zu gewinnen, lassen wir
dahin gestellt sein. Schon die metrische Form des letzten Theils würde einem
solchen Unternehmen große Schwierigkeiten in den Weg setzen. Dennoch wäre
um der einzelnen, meisterhaft ausgeführten selten willen die Sache des Ver¬
suchs werth.

Uebrigens finden wir diese Vorliebe für große energische Naturen, die mit
der Welt ein frevelhaftes Spiel treiben, weil sie keinen Gegenstand finden, den
sie achten können, auch in Immermann's Gedichten wieder, wo unter Anderem
Napoleons Schatten mit bitterem Hohne Gott zur Rechenschaft zieht, daß er ihn
gestürzt habe um der armseligen Zwerge willen, die so gemein sind ihn zu be¬
wundern, obgleich er sie mit Füßen getreten hat. Deutlicher konnte der Conflict
im Innern des Dichters selbst nicht ausgedrückt werden.

Sehr hochfligende Pläne hat der Dichter mit seinem „Merlin" gehabt l,1834),
einer weltumspannenden mystisch-satyrischen Tragödie nach dem Vorbild des Faust.
„Merlin sollte die Tragödie des Widerspruchs werden. Die göttlichen Dinge, wenn
sie in die Erscheinung treten, zerbrechen, decomponiren sich an derselben. Selbst das
religiöse Gefühl unterliegt diesem Gesetz. Nur binnen gewisser Schranken wird es
uicht zur Caricatur, bleibt dann aber anch freilich jenseit der vollen Erscheinung
stehn. Will es in diese übergehn, so macht es Fanatiker, Bigotte. Ich zweifle,
daß irgend ein Heiliger vom Lächerlichen sich ganz frei gehalten hat. Diese Be¬
trachtungen faßte ich im Merlin sublimirt, vergeistigt. Der Sohn Satans und
der Jungfrau, andachttrunken, fällt auf dem Wege zu Gott in den jämmer¬
lichsten Wahnwitz." ^ Trotz dieser hohen Intention und trotz der mannichfaltigen
Anspielungen', die alle irgend nennenswerthen Fragen der damaligen Literatur
und Sitte berühren, zum Theil nicht ohne Geist, erregt das Gedicht seiner ab¬
soluten Formlosigkeit wegen die entschiedenste Langeweile. Aber es ist charakte¬
ristisch für den Uebergang zur jungdeutschen Auffassung des Lebens, zu jener Poesie
des Contrastes, die in ihren Irrfahrten nicht nach einem bestimmten, festen Ziele


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0220" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/94121"/>
            <p xml:id="ID_608" prev="#ID_607"> und den eines Richard III. »erschmelzen möchten. Sehen wir aber von dieser<lb/>
krankhaften Anlage ab, so können wir dem Stück in vieler Beziehung unsre<lb/>
warme Anerkennung nicht versagen. Die Sprache ist ernst und würdig, ti,e<lb/>
Charaktere gewissenhaft ausgeführt und wenigstens in einzelnen Momenten die<lb/>
poetische Intention zum vollsten dramatischen Leben durchgebildet. Es ist darum zu<lb/>
bedauern, daß Immermann sich nicht zu einer größern Concentration hat entschließen<lb/>
können. Die Form einer Trilogie ist für unser'Theater unbrauchbar; und doch<lb/>
ist von den drei Theilen des Gedichts keiner zu entbehren, am wenigsten der<lb/>
letzte, in dem an dem Helden poetische Gerechtigkeit ausgeübt wird. Der stolze<lb/>
Selbstherrscher, der überall das Geschick mit klarem Bewußtsein nach seinem<lb/>
eisernen Willen zu lenken glaubte, muß erkennen, daß er der Spielball deS<lb/>
gemeinsten Ehrgeizes gewesen ist. Ob es möglich sein würde, durch Zusammen¬<lb/>
ziehung und Ausmerzung das Stück für unser Theater zu gewinnen, lassen wir<lb/>
dahin gestellt sein. Schon die metrische Form des letzten Theils würde einem<lb/>
solchen Unternehmen große Schwierigkeiten in den Weg setzen. Dennoch wäre<lb/>
um der einzelnen, meisterhaft ausgeführten selten willen die Sache des Ver¬<lb/>
suchs werth.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_609"> Uebrigens finden wir diese Vorliebe für große energische Naturen, die mit<lb/>
der Welt ein frevelhaftes Spiel treiben, weil sie keinen Gegenstand finden, den<lb/>
sie achten können, auch in Immermann's Gedichten wieder, wo unter Anderem<lb/>
Napoleons Schatten mit bitterem Hohne Gott zur Rechenschaft zieht, daß er ihn<lb/>
gestürzt habe um der armseligen Zwerge willen, die so gemein sind ihn zu be¬<lb/>
wundern, obgleich er sie mit Füßen getreten hat. Deutlicher konnte der Conflict<lb/>
im Innern des Dichters selbst nicht ausgedrückt werden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_610" next="#ID_611"> Sehr hochfligende Pläne hat der Dichter mit seinem &#x201E;Merlin" gehabt l,1834),<lb/>
einer weltumspannenden mystisch-satyrischen Tragödie nach dem Vorbild des Faust.<lb/>
&#x201E;Merlin sollte die Tragödie des Widerspruchs werden. Die göttlichen Dinge, wenn<lb/>
sie in die Erscheinung treten, zerbrechen, decomponiren sich an derselben. Selbst das<lb/>
religiöse Gefühl unterliegt diesem Gesetz. Nur binnen gewisser Schranken wird es<lb/>
uicht zur Caricatur, bleibt dann aber anch freilich jenseit der vollen Erscheinung<lb/>
stehn. Will es in diese übergehn, so macht es Fanatiker, Bigotte. Ich zweifle,<lb/>
daß irgend ein Heiliger vom Lächerlichen sich ganz frei gehalten hat. Diese Be¬<lb/>
trachtungen faßte ich im Merlin sublimirt, vergeistigt. Der Sohn Satans und<lb/>
der Jungfrau, andachttrunken, fällt auf dem Wege zu Gott in den jämmer¬<lb/>
lichsten Wahnwitz." ^ Trotz dieser hohen Intention und trotz der mannichfaltigen<lb/>
Anspielungen', die alle irgend nennenswerthen Fragen der damaligen Literatur<lb/>
und Sitte berühren, zum Theil nicht ohne Geist, erregt das Gedicht seiner ab¬<lb/>
soluten Formlosigkeit wegen die entschiedenste Langeweile. Aber es ist charakte¬<lb/>
ristisch für den Uebergang zur jungdeutschen Auffassung des Lebens, zu jener Poesie<lb/>
des Contrastes, die in ihren Irrfahrten nicht nach einem bestimmten, festen Ziele</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0220] und den eines Richard III. »erschmelzen möchten. Sehen wir aber von dieser krankhaften Anlage ab, so können wir dem Stück in vieler Beziehung unsre warme Anerkennung nicht versagen. Die Sprache ist ernst und würdig, ti,e Charaktere gewissenhaft ausgeführt und wenigstens in einzelnen Momenten die poetische Intention zum vollsten dramatischen Leben durchgebildet. Es ist darum zu bedauern, daß Immermann sich nicht zu einer größern Concentration hat entschließen können. Die Form einer Trilogie ist für unser'Theater unbrauchbar; und doch ist von den drei Theilen des Gedichts keiner zu entbehren, am wenigsten der letzte, in dem an dem Helden poetische Gerechtigkeit ausgeübt wird. Der stolze Selbstherrscher, der überall das Geschick mit klarem Bewußtsein nach seinem eisernen Willen zu lenken glaubte, muß erkennen, daß er der Spielball deS gemeinsten Ehrgeizes gewesen ist. Ob es möglich sein würde, durch Zusammen¬ ziehung und Ausmerzung das Stück für unser Theater zu gewinnen, lassen wir dahin gestellt sein. Schon die metrische Form des letzten Theils würde einem solchen Unternehmen große Schwierigkeiten in den Weg setzen. Dennoch wäre um der einzelnen, meisterhaft ausgeführten selten willen die Sache des Ver¬ suchs werth. Uebrigens finden wir diese Vorliebe für große energische Naturen, die mit der Welt ein frevelhaftes Spiel treiben, weil sie keinen Gegenstand finden, den sie achten können, auch in Immermann's Gedichten wieder, wo unter Anderem Napoleons Schatten mit bitterem Hohne Gott zur Rechenschaft zieht, daß er ihn gestürzt habe um der armseligen Zwerge willen, die so gemein sind ihn zu be¬ wundern, obgleich er sie mit Füßen getreten hat. Deutlicher konnte der Conflict im Innern des Dichters selbst nicht ausgedrückt werden. Sehr hochfligende Pläne hat der Dichter mit seinem „Merlin" gehabt l,1834), einer weltumspannenden mystisch-satyrischen Tragödie nach dem Vorbild des Faust. „Merlin sollte die Tragödie des Widerspruchs werden. Die göttlichen Dinge, wenn sie in die Erscheinung treten, zerbrechen, decomponiren sich an derselben. Selbst das religiöse Gefühl unterliegt diesem Gesetz. Nur binnen gewisser Schranken wird es uicht zur Caricatur, bleibt dann aber anch freilich jenseit der vollen Erscheinung stehn. Will es in diese übergehn, so macht es Fanatiker, Bigotte. Ich zweifle, daß irgend ein Heiliger vom Lächerlichen sich ganz frei gehalten hat. Diese Be¬ trachtungen faßte ich im Merlin sublimirt, vergeistigt. Der Sohn Satans und der Jungfrau, andachttrunken, fällt auf dem Wege zu Gott in den jämmer¬ lichsten Wahnwitz." ^ Trotz dieser hohen Intention und trotz der mannichfaltigen Anspielungen', die alle irgend nennenswerthen Fragen der damaligen Literatur und Sitte berühren, zum Theil nicht ohne Geist, erregt das Gedicht seiner ab¬ soluten Formlosigkeit wegen die entschiedenste Langeweile. Aber es ist charakte¬ ristisch für den Uebergang zur jungdeutschen Auffassung des Lebens, zu jener Poesie des Contrastes, die in ihren Irrfahrten nicht nach einem bestimmten, festen Ziele

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/220
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/220>, abgerufen am 24.07.2024.