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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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gel's "Vorlesungen über die neuere Geschichte" (1811) war zuerst der Ton an¬
gegeben, der dann in Haller's "Restauration der Staatswissenschaft" (1816)
und ähnlichen Schriften sich überlaut vernehmen ließ. Man hatte zu Gunsten
einer abstracten Idee, die als Ferment für eine gewisse Zeit ihre Berechtigung
hatte, die ganze Geschichte und die ganze Staatswissenschaft auf den Kopf ge¬
stellt; das Germanenthum, unter der Herrschaft Napoleon's eine Waffe der
Freiheit, wurde nach seinem Sturze ein Aushängeschild für die Knechtschaft.
Während es zuerst die Freiheit der Individualität gefordert hatte gegen das
Uebergreifen des nivellirenden Liberalismus, so diente es jetzt der Laune und
Caprice gegen die gefürchtet? Macht der Vernunft. Diesen Umstand dürfen wir
nicht außer Betracht lassen, wenn wir erwägen, wie damals die ideale Verklärung
des mittelalterlichen Ritterthums den Zauberring zu einem Lieblingsbuch der
feinen Welt machte, in demselben Jahre, wo die unteren Schichten des Volkes
sich an Clauren's Mimili erbauten. Auch W. Scott ging damals vom Gedicht
zum historischen Roman über; auch in seinen Gemälden läßt sich als Grund¬
färbung die Neigung für die Burke'schen Ideen über das Ritterthum wiederfinden,
aber im Uebrigen welcher Gegensatz! Auch bei denjenigen Romanen, deren
Gegenstand das eigentliche Mittelalter ist, mit all' seiner Romantik und all' sei¬
nen Capricen, legi W. Scott eine historische Studie zu Grunde, z. B. in
"Ivanhoe", der die nämliche Zeit behandelt, wie der Zauberring. Trotz seiner
Vorliebe, sür die Romantik nimmt er nur den Stoff, das Kolorit und das Co-
stum daraus. Ueberall deutet er durch feine ironische Züge an, daß sein Be¬
wußtsein sich von den Ideen, die er darstellt, wesentlich unterscheidet. Durch
diese Unterscheidung kommt in seine Gestalten einerseits jene bestimmte plastische
Form, die ihren eigentlichen künstlerischen Werth ausmacht,' andererseits jene
allgemein menschliche Verständlichkeit, die sie uns näher führt. W. Scott kann
darum objectiv sein, weil er sein eigenes Selbst niemals verliert; Fouque da¬
gegen geht vollständig in seinem.Gegenstande auf. Seine Quelle ist nicht die
Geschichte, sondern die mittelalterliche Poesie, und wir haben bei ihm Naivetät
und Sentimentalität, die überhaupt stets in einem innern Zusammenhange stehen,
in der wunderbarsten Verkettung. Seine Begebenheiten wie seine Charaktere
haben keinen bestimmten Boden; sie schweben in der Luft, und so sehr er sich
abmüht, in jeder von ihnen eine ganz besondere Eigenthümlichkeit darzustellen,
werden sie doch monoton, weil alle ihre Empfindung und Anschauung immer
nur ans der Seele des Dichters hervorgeht, niemals aus der einfach hingenom¬
menen Realität. Der Zauberring steht mit seinem Ritterwesen ganz auf dem¬
selben Niveau, wie Uhland's Balladen, oder, wenn wir aus ein anderes Gebiet
übergehen wollen, wie Franz Sternbald, Heinrich von Ofterdingen und --
Rinaldo Rinaldini; überall ideale, d. h. unhistorische Ritter, Räuber, Künstler,
Schloßfräulein, zarte Blumengesichter mit anmuthig wallenden Locken ohne Cha-


gel's „Vorlesungen über die neuere Geschichte" (1811) war zuerst der Ton an¬
gegeben, der dann in Haller's „Restauration der Staatswissenschaft" (1816)
und ähnlichen Schriften sich überlaut vernehmen ließ. Man hatte zu Gunsten
einer abstracten Idee, die als Ferment für eine gewisse Zeit ihre Berechtigung
hatte, die ganze Geschichte und die ganze Staatswissenschaft auf den Kopf ge¬
stellt; das Germanenthum, unter der Herrschaft Napoleon's eine Waffe der
Freiheit, wurde nach seinem Sturze ein Aushängeschild für die Knechtschaft.
Während es zuerst die Freiheit der Individualität gefordert hatte gegen das
Uebergreifen des nivellirenden Liberalismus, so diente es jetzt der Laune und
Caprice gegen die gefürchtet? Macht der Vernunft. Diesen Umstand dürfen wir
nicht außer Betracht lassen, wenn wir erwägen, wie damals die ideale Verklärung
des mittelalterlichen Ritterthums den Zauberring zu einem Lieblingsbuch der
feinen Welt machte, in demselben Jahre, wo die unteren Schichten des Volkes
sich an Clauren's Mimili erbauten. Auch W. Scott ging damals vom Gedicht
zum historischen Roman über; auch in seinen Gemälden läßt sich als Grund¬
färbung die Neigung für die Burke'schen Ideen über das Ritterthum wiederfinden,
aber im Uebrigen welcher Gegensatz! Auch bei denjenigen Romanen, deren
Gegenstand das eigentliche Mittelalter ist, mit all' seiner Romantik und all' sei¬
nen Capricen, legi W. Scott eine historische Studie zu Grunde, z. B. in
„Ivanhoe", der die nämliche Zeit behandelt, wie der Zauberring. Trotz seiner
Vorliebe, sür die Romantik nimmt er nur den Stoff, das Kolorit und das Co-
stum daraus. Ueberall deutet er durch feine ironische Züge an, daß sein Be¬
wußtsein sich von den Ideen, die er darstellt, wesentlich unterscheidet. Durch
diese Unterscheidung kommt in seine Gestalten einerseits jene bestimmte plastische
Form, die ihren eigentlichen künstlerischen Werth ausmacht,' andererseits jene
allgemein menschliche Verständlichkeit, die sie uns näher führt. W. Scott kann
darum objectiv sein, weil er sein eigenes Selbst niemals verliert; Fouque da¬
gegen geht vollständig in seinem.Gegenstande auf. Seine Quelle ist nicht die
Geschichte, sondern die mittelalterliche Poesie, und wir haben bei ihm Naivetät
und Sentimentalität, die überhaupt stets in einem innern Zusammenhange stehen,
in der wunderbarsten Verkettung. Seine Begebenheiten wie seine Charaktere
haben keinen bestimmten Boden; sie schweben in der Luft, und so sehr er sich
abmüht, in jeder von ihnen eine ganz besondere Eigenthümlichkeit darzustellen,
werden sie doch monoton, weil alle ihre Empfindung und Anschauung immer
nur ans der Seele des Dichters hervorgeht, niemals aus der einfach hingenom¬
menen Realität. Der Zauberring steht mit seinem Ritterwesen ganz auf dem¬
selben Niveau, wie Uhland's Balladen, oder, wenn wir aus ein anderes Gebiet
übergehen wollen, wie Franz Sternbald, Heinrich von Ofterdingen und —
Rinaldo Rinaldini; überall ideale, d. h. unhistorische Ritter, Räuber, Künstler,
Schloßfräulein, zarte Blumengesichter mit anmuthig wallenden Locken ohne Cha-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/183>, abgerufen am 24.07.2024.