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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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Form auf, und hielt sich so streng an diese willkürlich angenommenen Ge¬
setze der Schönheit, daß jede noch so schone Ausnahme aus den Sammlungen
verbannt wurde. Das Lächerliche einer solchen Liebhaberei und einer so reichen
Literatur über eine einzige Pflanze fällt uns um so mehr auf, da wir eigentlich
schöne Sammlungen nicht mehr besitzen. Die Nelkenliebhaberei verbreitete sich
schon deshalb mehr, als die der früheren Blumen, weil die Nelke die erste im
Sommer und längere Zeit blühende Blumistenpflanze war, und da die Nelken¬
zucht vor dem Blumenfenster, also anch von dem Besitzlosen, betrieben werden
konnte. Auch der Unbemittelte wußte sich einige schöne Nelken zu verschaffen, und
brachte es durch Tausch und Samenzucht zu eiuer hübschen Sammlung. Als
aber die Auswahl der Blumen in Folge, botanischer Reisen immer größer wurde,
verlor sich die Nelkenliebhaberei immer mehr und mehr, und schon in den zwan¬
ziger Jahren waren gute Sammlungen eine Seltenheit. Von den Gärtnern
werden die Nelken gerade jetzt mehr als billig zurückgesetzt, und man findet jetzt
zahlreiche große Gärten, wo nicht eine Nelke zu finden ist. Dagegen blieben
sie Lieblinge der Armen, und werden häusig in Gebirgsgegenden und wo eine
Fabrikbevölkerung vorherrschend ist, gehegt und hochgeschätzt, z. B. in der Gegend
von Verviers*) in Belgien, Paisley in England und mehreren Landschaften in
Deutschland und der Schweiz. Wenn der Bergmann aus seiner dunklen Schacht
heraufsteigt, und der Fabrikarbeiter und Handwerker aus seiner kleinen düstern
Stube heraussieht, so erfreut ihn die stolze Pracht und der starke Duft dieser
Blumen, und er sucht sein Fenster so reich wie möglich damit zu schmücken. Ue-
brigens nimmt in neuester Zeit, seitdem es gelungen ist, mehrmals und auch im
Winter blühende Nelken zu erziehen, die Liebhaberei wieder zu, und auch
einige Gärtner beschäftigen sich wieder eifrig mit ihrer Cultur. -- Nicht viel weniger
war die Mode den Aurikeln günstig, deren einfach gelb blühende Stammpflauze
schon im 16. Jahrhundert von den Alpen in die Gärten verpflanzt wurde, wo sich
sehr bald eine Menge Spielarten bildeten, so daß es 1620 schon über 20 gab.
Zu ihrer größten Allsbildung gelangten sie zu Ende des vorigen und zu Anfange
dieses Jahrhunderts. Auch die Aurikel hatte ihre besondere Literatur, und mit
Farbe, Zeichnung und Form wurde es eben so genau genommen, wie bei den
Nelken. Man unterschied hauptsächlich zwei Abarten, die sogenannnten englischen,
welche sehr verschiedenfarbig, obschon matt von Farbe und sämmtlich mit Puder
überzogen sind, und die in der Gegend ,von Lüttich gezogenen Luycker Aurikel mit
großen sammetartigen, meist einfarbigen oder schattirter Blumen. Letztere sind
genau genommen viel schöner, aber weil sie nicht so selten und leichter zu ziehen
waren, so wurden sie von eigentlichen Aurikelkennern nicht geschätzt. Die Aurikel



Die Nelkenlicbhaberei erstreckt sich bis Lüttich, Spa und an die Ardennen. Man
zieht besonders zwergartige Nelken, die so reich blühen, daß oft 200 Blumen an einem Stocke
prangen; eine Vollkommenheit, die sonst nirgends erreicht wird.
Grenzboten. I. 18L2. S9

Form auf, und hielt sich so streng an diese willkürlich angenommenen Ge¬
setze der Schönheit, daß jede noch so schone Ausnahme aus den Sammlungen
verbannt wurde. Das Lächerliche einer solchen Liebhaberei und einer so reichen
Literatur über eine einzige Pflanze fällt uns um so mehr auf, da wir eigentlich
schöne Sammlungen nicht mehr besitzen. Die Nelkenliebhaberei verbreitete sich
schon deshalb mehr, als die der früheren Blumen, weil die Nelke die erste im
Sommer und längere Zeit blühende Blumistenpflanze war, und da die Nelken¬
zucht vor dem Blumenfenster, also anch von dem Besitzlosen, betrieben werden
konnte. Auch der Unbemittelte wußte sich einige schöne Nelken zu verschaffen, und
brachte es durch Tausch und Samenzucht zu eiuer hübschen Sammlung. Als
aber die Auswahl der Blumen in Folge, botanischer Reisen immer größer wurde,
verlor sich die Nelkenliebhaberei immer mehr und mehr, und schon in den zwan¬
ziger Jahren waren gute Sammlungen eine Seltenheit. Von den Gärtnern
werden die Nelken gerade jetzt mehr als billig zurückgesetzt, und man findet jetzt
zahlreiche große Gärten, wo nicht eine Nelke zu finden ist. Dagegen blieben
sie Lieblinge der Armen, und werden häusig in Gebirgsgegenden und wo eine
Fabrikbevölkerung vorherrschend ist, gehegt und hochgeschätzt, z. B. in der Gegend
von Verviers*) in Belgien, Paisley in England und mehreren Landschaften in
Deutschland und der Schweiz. Wenn der Bergmann aus seiner dunklen Schacht
heraufsteigt, und der Fabrikarbeiter und Handwerker aus seiner kleinen düstern
Stube heraussieht, so erfreut ihn die stolze Pracht und der starke Duft dieser
Blumen, und er sucht sein Fenster so reich wie möglich damit zu schmücken. Ue-
brigens nimmt in neuester Zeit, seitdem es gelungen ist, mehrmals und auch im
Winter blühende Nelken zu erziehen, die Liebhaberei wieder zu, und auch
einige Gärtner beschäftigen sich wieder eifrig mit ihrer Cultur. — Nicht viel weniger
war die Mode den Aurikeln günstig, deren einfach gelb blühende Stammpflauze
schon im 16. Jahrhundert von den Alpen in die Gärten verpflanzt wurde, wo sich
sehr bald eine Menge Spielarten bildeten, so daß es 1620 schon über 20 gab.
Zu ihrer größten Allsbildung gelangten sie zu Ende des vorigen und zu Anfange
dieses Jahrhunderts. Auch die Aurikel hatte ihre besondere Literatur, und mit
Farbe, Zeichnung und Form wurde es eben so genau genommen, wie bei den
Nelken. Man unterschied hauptsächlich zwei Abarten, die sogenannnten englischen,
welche sehr verschiedenfarbig, obschon matt von Farbe und sämmtlich mit Puder
überzogen sind, und die in der Gegend ,von Lüttich gezogenen Luycker Aurikel mit
großen sammetartigen, meist einfarbigen oder schattirter Blumen. Letztere sind
genau genommen viel schöner, aber weil sie nicht so selten und leichter zu ziehen
waren, so wurden sie von eigentlichen Aurikelkennern nicht geschätzt. Die Aurikel



Die Nelkenlicbhaberei erstreckt sich bis Lüttich, Spa und an die Ardennen. Man
zieht besonders zwergartige Nelken, die so reich blühen, daß oft 200 Blumen an einem Stocke
prangen; eine Vollkommenheit, die sonst nirgends erreicht wird.
Grenzboten. I. 18L2. S9
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/475>, abgerufen am 28.06.2024.