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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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schen Schule an. Auch die Einleitung spricht von weitanssehenden unermeßlichen
Intentionen, die man nnr bei tieferem Studium finden könne. Der Roman habe
den Zweck, Gottes furchtbare und geheimnißvolle Regierung der moralischen
Welt zu erläutern. -- Die Ausführung stimmt mit diesen Versprechungen nicht
überein. Nicht einmal der Gegensatz zwischen einer vergangenen und der gegen¬
wärtigen Zeit, auf deu der Titel aufmerksam macht, wird durchgeführt, obgleich
die Begebenheit im vorigen Jahrhundert spielt. -- Der Inhalt ist ein Criminal-
proceß, wie im vorigen ein Civilproceß. Ein armer Mann, Adam Ayliffe, wird
wegen eines Mordes angeklagt, und weil alle Jndicien gegen ihn sprechen, und
weil ein vornehmer Aristokrat, der dnrch sein Zeugniß seine Unschuld erweisen
könnte, dieses Zeugniß vorenthalte um auf die Ehre seines Hauses auch nicht den
geringsten Makel zu werfen, zum Tode verurtheilt und endlich zu zwanzigjähriger
Deportation begnadigt. Als alter Mann kommt er zurück, sein ursprünglicher
Trotz ist durch das Leide" und das nachdenke" bezwungen, und zwischen seinem
Hanse und dem Hanse jenes Aristokraten wird dnrch eine Heirath die angemessene
Versöhnung geschlossen. Diese Versöhnung hat einen zu theologischen Anstrich,
um zu überzeugen. Das Hauptinteresse des Romans liegt auch keineswegs in
dieser sittlichen Tendenz, sondern in der materiellen Spannung des Processes, der
mit eben so großer Ausführlichkeit dargestellt wird, als der Erbschaftsproceß zwi¬
schen Tittlebat und Aubrey. Doch ist darin weniger juristisches Juteresse,
als in jenen Verwickelungen des Civilrechts. Der Anlage nach ist dieser Roman,
der aus eiuer Reihe von Nachtstücken besteht und aus Combinationen, die mehr
dem Witz, als der Phantasie angehören, dem Catch Williams von Godwin nach¬
gebildet, über den wir in einem frühern Aussatz berichtet haben. Eine ideale
Figur dagegen, der Pfarrer Hylton, der durch seine Bemühungen die Irrfahrten
der Vorsehung ins rechte Gleis zu bringen sucht,,und mit seinem Gottvertrauen
und seinem Rechtsgefühl gegen die Leidenschaften und die Schwächen der Uebrigen
contrastirt, erinnert an Jenny Deans aus dem "Herzen von Midlothian". Einzelne
von den Nachtstücken sind nicht nur mit großer Virtuosität, sondern auch mit
wahrem Gefühl geschildert, z. B. der düstere Weihnachtsabend, an welchem Adam'S
Aeltern erfahren, daß mau ihren Sohn als Mörder verhaftet hat, und die nächt¬
liche Verfolgung des angebliche" Mörders. Die eine Scene kann sich in Be¬
ziehung auf die kräftige "ut lebendige Stimmung mit Washington Irving, die
andere durch ihren materiellen Reiz mit Ainsworth vergleichen.

Das neueste Werk Warren's: "Die Lilie und die Biene, eine Fabel
vom Krystallpalast" (18L1), ist vollständig der Carlyle'schen Manier verfal¬
len. Der Gegenstand, die kosmopolitische Bedeutung der-Industrie, an sich schou
unendlich, ist durch weitaussehende Jdeenassocianonen, die lyrisch ausgeführt wer¬
den, noch weiter ins Unermeßliche ausgedehnt. Die Sprache ist bald apho¬
ristisch und zerfahren, bald schwülstig und mystisch. Die Realität wird fortwährend


schen Schule an. Auch die Einleitung spricht von weitanssehenden unermeßlichen
Intentionen, die man nnr bei tieferem Studium finden könne. Der Roman habe
den Zweck, Gottes furchtbare und geheimnißvolle Regierung der moralischen
Welt zu erläutern. — Die Ausführung stimmt mit diesen Versprechungen nicht
überein. Nicht einmal der Gegensatz zwischen einer vergangenen und der gegen¬
wärtigen Zeit, auf deu der Titel aufmerksam macht, wird durchgeführt, obgleich
die Begebenheit im vorigen Jahrhundert spielt. — Der Inhalt ist ein Criminal-
proceß, wie im vorigen ein Civilproceß. Ein armer Mann, Adam Ayliffe, wird
wegen eines Mordes angeklagt, und weil alle Jndicien gegen ihn sprechen, und
weil ein vornehmer Aristokrat, der dnrch sein Zeugniß seine Unschuld erweisen
könnte, dieses Zeugniß vorenthalte um auf die Ehre seines Hauses auch nicht den
geringsten Makel zu werfen, zum Tode verurtheilt und endlich zu zwanzigjähriger
Deportation begnadigt. Als alter Mann kommt er zurück, sein ursprünglicher
Trotz ist durch das Leide» und das nachdenke» bezwungen, und zwischen seinem
Hanse und dem Hanse jenes Aristokraten wird dnrch eine Heirath die angemessene
Versöhnung geschlossen. Diese Versöhnung hat einen zu theologischen Anstrich,
um zu überzeugen. Das Hauptinteresse des Romans liegt auch keineswegs in
dieser sittlichen Tendenz, sondern in der materiellen Spannung des Processes, der
mit eben so großer Ausführlichkeit dargestellt wird, als der Erbschaftsproceß zwi¬
schen Tittlebat und Aubrey. Doch ist darin weniger juristisches Juteresse,
als in jenen Verwickelungen des Civilrechts. Der Anlage nach ist dieser Roman,
der aus eiuer Reihe von Nachtstücken besteht und aus Combinationen, die mehr
dem Witz, als der Phantasie angehören, dem Catch Williams von Godwin nach¬
gebildet, über den wir in einem frühern Aussatz berichtet haben. Eine ideale
Figur dagegen, der Pfarrer Hylton, der durch seine Bemühungen die Irrfahrten
der Vorsehung ins rechte Gleis zu bringen sucht,,und mit seinem Gottvertrauen
und seinem Rechtsgefühl gegen die Leidenschaften und die Schwächen der Uebrigen
contrastirt, erinnert an Jenny Deans aus dem „Herzen von Midlothian". Einzelne
von den Nachtstücken sind nicht nur mit großer Virtuosität, sondern auch mit
wahrem Gefühl geschildert, z. B. der düstere Weihnachtsabend, an welchem Adam'S
Aeltern erfahren, daß mau ihren Sohn als Mörder verhaftet hat, und die nächt¬
liche Verfolgung des angebliche» Mörders. Die eine Scene kann sich in Be¬
ziehung auf die kräftige »ut lebendige Stimmung mit Washington Irving, die
andere durch ihren materiellen Reiz mit Ainsworth vergleichen.

Das neueste Werk Warren's: „Die Lilie und die Biene, eine Fabel
vom Krystallpalast" (18L1), ist vollständig der Carlyle'schen Manier verfal¬
len. Der Gegenstand, die kosmopolitische Bedeutung der-Industrie, an sich schou
unendlich, ist durch weitaussehende Jdeenassocianonen, die lyrisch ausgeführt wer¬
den, noch weiter ins Unermeßliche ausgedehnt. Die Sprache ist bald apho¬
ristisch und zerfahren, bald schwülstig und mystisch. Die Realität wird fortwährend


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[0417] schen Schule an. Auch die Einleitung spricht von weitanssehenden unermeßlichen Intentionen, die man nnr bei tieferem Studium finden könne. Der Roman habe den Zweck, Gottes furchtbare und geheimnißvolle Regierung der moralischen Welt zu erläutern. — Die Ausführung stimmt mit diesen Versprechungen nicht überein. Nicht einmal der Gegensatz zwischen einer vergangenen und der gegen¬ wärtigen Zeit, auf deu der Titel aufmerksam macht, wird durchgeführt, obgleich die Begebenheit im vorigen Jahrhundert spielt. — Der Inhalt ist ein Criminal- proceß, wie im vorigen ein Civilproceß. Ein armer Mann, Adam Ayliffe, wird wegen eines Mordes angeklagt, und weil alle Jndicien gegen ihn sprechen, und weil ein vornehmer Aristokrat, der dnrch sein Zeugniß seine Unschuld erweisen könnte, dieses Zeugniß vorenthalte um auf die Ehre seines Hauses auch nicht den geringsten Makel zu werfen, zum Tode verurtheilt und endlich zu zwanzigjähriger Deportation begnadigt. Als alter Mann kommt er zurück, sein ursprünglicher Trotz ist durch das Leide» und das nachdenke» bezwungen, und zwischen seinem Hanse und dem Hanse jenes Aristokraten wird dnrch eine Heirath die angemessene Versöhnung geschlossen. Diese Versöhnung hat einen zu theologischen Anstrich, um zu überzeugen. Das Hauptinteresse des Romans liegt auch keineswegs in dieser sittlichen Tendenz, sondern in der materiellen Spannung des Processes, der mit eben so großer Ausführlichkeit dargestellt wird, als der Erbschaftsproceß zwi¬ schen Tittlebat und Aubrey. Doch ist darin weniger juristisches Juteresse, als in jenen Verwickelungen des Civilrechts. Der Anlage nach ist dieser Roman, der aus eiuer Reihe von Nachtstücken besteht und aus Combinationen, die mehr dem Witz, als der Phantasie angehören, dem Catch Williams von Godwin nach¬ gebildet, über den wir in einem frühern Aussatz berichtet haben. Eine ideale Figur dagegen, der Pfarrer Hylton, der durch seine Bemühungen die Irrfahrten der Vorsehung ins rechte Gleis zu bringen sucht,,und mit seinem Gottvertrauen und seinem Rechtsgefühl gegen die Leidenschaften und die Schwächen der Uebrigen contrastirt, erinnert an Jenny Deans aus dem „Herzen von Midlothian". Einzelne von den Nachtstücken sind nicht nur mit großer Virtuosität, sondern auch mit wahrem Gefühl geschildert, z. B. der düstere Weihnachtsabend, an welchem Adam'S Aeltern erfahren, daß mau ihren Sohn als Mörder verhaftet hat, und die nächt¬ liche Verfolgung des angebliche» Mörders. Die eine Scene kann sich in Be¬ ziehung auf die kräftige »ut lebendige Stimmung mit Washington Irving, die andere durch ihren materiellen Reiz mit Ainsworth vergleichen. Das neueste Werk Warren's: „Die Lilie und die Biene, eine Fabel vom Krystallpalast" (18L1), ist vollständig der Carlyle'schen Manier verfal¬ len. Der Gegenstand, die kosmopolitische Bedeutung der-Industrie, an sich schou unendlich, ist durch weitaussehende Jdeenassocianonen, die lyrisch ausgeführt wer¬ den, noch weiter ins Unermeßliche ausgedehnt. Die Sprache ist bald apho¬ ristisch und zerfahren, bald schwülstig und mystisch. Die Realität wird fortwährend

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/417>, abgerufen am 22.07.2024.