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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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durch Visionen unterbrochen, und das Gefühl übermannt den Dichter zuletzt so
vollständig, daß er sich in Ausrufungszeichen verliert. Es herrscht in diesen wun¬
derlichen Combinationen ein großer Enthusiasmus für die Königin Victoria, die sich all-
mählichzurJdeedeö britischen Reichs erweitert, jenes Giganten, der in allen Welttheilen
zugleich seine Schlachten schlägt, dieBarbaren inJndieu, in Amerika, in Australien civi-
lisirt, den continentalen Despotismus bekämpft, die Negersclaven emancipirt, und die
Nachtunholde der römischen Kirche in ihr Dunkel zurückscheucht. Es ist das Alles
eine Mischung von Metaphysik und Lyrik, an die wir in Deutschland mehr als
hinlänglich gewöhnt sind, und die uns bei einem britischen Schriftsteller sehr
unbequem wird. Reale Anschauungen sind sehr wenig darin zu finden; es löst
sich fast Alles in Symbole auf: die Lilie z. B. ist der Glaube, die Biene die
Demuth n. s. w.

Wir unterlassen es, diese eigenthümliche Manier bei Warren näher ausein¬
anderzusetzen, weil andere Dichter der neuesten Zeit, bei denen sie sich, ungemischt
vou anderweitigen Elementen, geltend macht, eine günstigere Gelegenheit dazu
bieten; vor allem Carlyle selbst, dann einige amerikanische Schriftsteller, die fast
ausschließlich in der deutsche" Schule gebildet find, namentlich Longfellow und
Hawthore. Wir verweisen aber auf die früheren Aufsätze, in deuen wir Shelley,
Godwin und Maturiu in ihrer der herrschenden Richtung entschieden widerstreben¬
den revolutionairen Tendenz darstellten, um daraus aufmerksam zu machen, daß
es in der Entwickelung der englischen Literatur auch eine "Nachtseite" giebt,
die man uicht übersehen darf, wenn man sich von diesem merkwürdigem Volk und
von seiner Beziehung zu dem unsrigen ein Totalbild mache" will. -- Den Aus¬
druck "Nachtseite" in der Bedeutuug, wie ihn Schubert braucht, möge man uns
hingehen lassen, um den Synonymen "Romantik" zu vermeiden, bei dem man sich
zu viel oder zu wenig denkt. -- Daß sich ein ausgesprochener Naturalist, wie
Warren, in naturgemäßen Fortschritt endlich gleichfalls in diese dunkle Region
verloren hat, ist ein Symptom mehr für das Wachsthum derselben in England,
welches uns noch mehrfach beschäftigen wird.




durch Visionen unterbrochen, und das Gefühl übermannt den Dichter zuletzt so
vollständig, daß er sich in Ausrufungszeichen verliert. Es herrscht in diesen wun¬
derlichen Combinationen ein großer Enthusiasmus für die Königin Victoria, die sich all-
mählichzurJdeedeö britischen Reichs erweitert, jenes Giganten, der in allen Welttheilen
zugleich seine Schlachten schlägt, dieBarbaren inJndieu, in Amerika, in Australien civi-
lisirt, den continentalen Despotismus bekämpft, die Negersclaven emancipirt, und die
Nachtunholde der römischen Kirche in ihr Dunkel zurückscheucht. Es ist das Alles
eine Mischung von Metaphysik und Lyrik, an die wir in Deutschland mehr als
hinlänglich gewöhnt sind, und die uns bei einem britischen Schriftsteller sehr
unbequem wird. Reale Anschauungen sind sehr wenig darin zu finden; es löst
sich fast Alles in Symbole auf: die Lilie z. B. ist der Glaube, die Biene die
Demuth n. s. w.

Wir unterlassen es, diese eigenthümliche Manier bei Warren näher ausein¬
anderzusetzen, weil andere Dichter der neuesten Zeit, bei denen sie sich, ungemischt
vou anderweitigen Elementen, geltend macht, eine günstigere Gelegenheit dazu
bieten; vor allem Carlyle selbst, dann einige amerikanische Schriftsteller, die fast
ausschließlich in der deutsche» Schule gebildet find, namentlich Longfellow und
Hawthore. Wir verweisen aber auf die früheren Aufsätze, in deuen wir Shelley,
Godwin und Maturiu in ihrer der herrschenden Richtung entschieden widerstreben¬
den revolutionairen Tendenz darstellten, um daraus aufmerksam zu machen, daß
es in der Entwickelung der englischen Literatur auch eine „Nachtseite" giebt,
die man uicht übersehen darf, wenn man sich von diesem merkwürdigem Volk und
von seiner Beziehung zu dem unsrigen ein Totalbild mache» will. — Den Aus¬
druck „Nachtseite" in der Bedeutuug, wie ihn Schubert braucht, möge man uns
hingehen lassen, um den Synonymen „Romantik" zu vermeiden, bei dem man sich
zu viel oder zu wenig denkt. — Daß sich ein ausgesprochener Naturalist, wie
Warren, in naturgemäßen Fortschritt endlich gleichfalls in diese dunkle Region
verloren hat, ist ein Symptom mehr für das Wachsthum derselben in England,
welches uns noch mehrfach beschäftigen wird.




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[0418] durch Visionen unterbrochen, und das Gefühl übermannt den Dichter zuletzt so vollständig, daß er sich in Ausrufungszeichen verliert. Es herrscht in diesen wun¬ derlichen Combinationen ein großer Enthusiasmus für die Königin Victoria, die sich all- mählichzurJdeedeö britischen Reichs erweitert, jenes Giganten, der in allen Welttheilen zugleich seine Schlachten schlägt, dieBarbaren inJndieu, in Amerika, in Australien civi- lisirt, den continentalen Despotismus bekämpft, die Negersclaven emancipirt, und die Nachtunholde der römischen Kirche in ihr Dunkel zurückscheucht. Es ist das Alles eine Mischung von Metaphysik und Lyrik, an die wir in Deutschland mehr als hinlänglich gewöhnt sind, und die uns bei einem britischen Schriftsteller sehr unbequem wird. Reale Anschauungen sind sehr wenig darin zu finden; es löst sich fast Alles in Symbole auf: die Lilie z. B. ist der Glaube, die Biene die Demuth n. s. w. Wir unterlassen es, diese eigenthümliche Manier bei Warren näher ausein¬ anderzusetzen, weil andere Dichter der neuesten Zeit, bei denen sie sich, ungemischt vou anderweitigen Elementen, geltend macht, eine günstigere Gelegenheit dazu bieten; vor allem Carlyle selbst, dann einige amerikanische Schriftsteller, die fast ausschließlich in der deutsche» Schule gebildet find, namentlich Longfellow und Hawthore. Wir verweisen aber auf die früheren Aufsätze, in deuen wir Shelley, Godwin und Maturiu in ihrer der herrschenden Richtung entschieden widerstreben¬ den revolutionairen Tendenz darstellten, um daraus aufmerksam zu machen, daß es in der Entwickelung der englischen Literatur auch eine „Nachtseite" giebt, die man uicht übersehen darf, wenn man sich von diesem merkwürdigem Volk und von seiner Beziehung zu dem unsrigen ein Totalbild mache» will. — Den Aus¬ druck „Nachtseite" in der Bedeutuug, wie ihn Schubert braucht, möge man uns hingehen lassen, um den Synonymen „Romantik" zu vermeiden, bei dem man sich zu viel oder zu wenig denkt. — Daß sich ein ausgesprochener Naturalist, wie Warren, in naturgemäßen Fortschritt endlich gleichfalls in diese dunkle Region verloren hat, ist ein Symptom mehr für das Wachsthum derselben in England, welches uns noch mehrfach beschäftigen wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/418>, abgerufen am 22.07.2024.