Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

abhängiger vom Original, als in der Zeichnung des Rubens, der seine prägnante
Originalität bekanntlich nicht verläugnen konnte. ANein in der Einheit und Wir¬
kung der Lineameute, im Charakter und Gefühlsausdruck sind Marco's Kopfe
theils stumpfer, theils einseitiger, Pietro's noch bedeutungsloser, während man
bei Rubens in Verstand, Leben, Empfindung namentlich die Gesichter des Bar-
tholomäus, Andreas, Petrus treuer nennen und gestehen muß, daß die Köpfe im
Ganzen in Soutman's Kupferstich mehr Wärme nud Geist haben als in Morghen's.
Aber die reine Gediegenheit, in der sie unsre Pastellbilder darstellen, würde man
mit allen diesen Mitteln nicht einmal haben ahnen können.

Die Pastellbilder haben ebenfalls nur ansehnliche naturgroße, nicht die
Hälfte drüber, wie die Figuren des Wandgemäldes. Für Leonardo's Carton von
Fertigung des Wandbildes können sie wegen dieses Größen-Unterschiedesund
wegen ihrer ursprünglichen, für solchen Zweck uudieulichen Vertheiluug auf 11
gleichgroße Blätter nicht gehalten werden; für vorgängige Studien auch uicht
wohl, weil gar zu wenig, was einem Pentimento gliche, an ihnen entdeckbar, die
Composition schon völlig bestimmt in allen Motiven an ihnen vorhanden, und ihre
Darstellung so geistig entschieden als handfrei ist. Ick) nehme an, um das Jahr
1L00, als das Wandgemälde schon fertig, aber noch in seinem Geiste warm
lebendig war, sah Leonardo den Untergang desselben in diesem Local (wie er als
denkender Techniker und großer Naturkundiger mußte) bereits voraus; er wiederholte
also das Wesentlichste seiner Schöpfung in der ihm sehr geläufigen Pastellmalerei,
theils um es zu erhalten, theils (und darum vertheilte er die Composition auf
11 mäßige Bilder) um es mit sich nehmen und überall vorweisen zu können.
Denn der Entschluß, Mailand zu verlassen, und in der Heimath Florenz würdige
Aufgaben zu suchen, mußte ihm schon damals nahe liegen. Wie dem sei: nur
in diesen eigenhändigen Zeichnungen ist uus der bestimmte Geist seines Werks
hente uoch erhalten, und damit von der größten Epoche christlicher Malerei ein
wichtiger Kulminationspunkt anschaulich gemacht. Deal Nichts vou gleicher
Großheit existirte damals, und was bald nachher in ähnlicher Knnstvollkommen-
heit hervorging, hat nnr in wenigen Fällen eine gleich schlichte Sachtiefe und an-
spruchslose Wahrheit.

Bekanntlich ist es in Leonardo's Composition das Wort Christi in der Jünger
Mitte: "Einer von Euch wird mich verrathen", was die Motive sämmtlicher
Apostel bestimmt, und vou beideu Seiten ihre Gruppen nach der Hauptfigur hin
bezieht und bewegt. Jedem Apostel ist ein Charakter gegeben, der ihn für das
überraschende Wort ans eigene Weise erregbar macht, so daß sich dessen Wirkung
in den mannichfaltigsten Affecten fühlbar macht. Links dem Beschauer ist der
Aeußerste am Tisch Bartholomäus, der sich eben erhoben hat und, die Hände auf
den Tisch gestützt, nach dem Herrn hinblickt. Dieser Profilkopf, der bei Marco
wenig Individualität, bei Morgheu eine nichtssagende Wohlbildnng, bei Soutiuan


abhängiger vom Original, als in der Zeichnung des Rubens, der seine prägnante
Originalität bekanntlich nicht verläugnen konnte. ANein in der Einheit und Wir¬
kung der Lineameute, im Charakter und Gefühlsausdruck sind Marco's Kopfe
theils stumpfer, theils einseitiger, Pietro's noch bedeutungsloser, während man
bei Rubens in Verstand, Leben, Empfindung namentlich die Gesichter des Bar-
tholomäus, Andreas, Petrus treuer nennen und gestehen muß, daß die Köpfe im
Ganzen in Soutman's Kupferstich mehr Wärme nud Geist haben als in Morghen's.
Aber die reine Gediegenheit, in der sie unsre Pastellbilder darstellen, würde man
mit allen diesen Mitteln nicht einmal haben ahnen können.

Die Pastellbilder haben ebenfalls nur ansehnliche naturgroße, nicht die
Hälfte drüber, wie die Figuren des Wandgemäldes. Für Leonardo's Carton von
Fertigung des Wandbildes können sie wegen dieses Größen-Unterschiedesund
wegen ihrer ursprünglichen, für solchen Zweck uudieulichen Vertheiluug auf 11
gleichgroße Blätter nicht gehalten werden; für vorgängige Studien auch uicht
wohl, weil gar zu wenig, was einem Pentimento gliche, an ihnen entdeckbar, die
Composition schon völlig bestimmt in allen Motiven an ihnen vorhanden, und ihre
Darstellung so geistig entschieden als handfrei ist. Ick) nehme an, um das Jahr
1L00, als das Wandgemälde schon fertig, aber noch in seinem Geiste warm
lebendig war, sah Leonardo den Untergang desselben in diesem Local (wie er als
denkender Techniker und großer Naturkundiger mußte) bereits voraus; er wiederholte
also das Wesentlichste seiner Schöpfung in der ihm sehr geläufigen Pastellmalerei,
theils um es zu erhalten, theils (und darum vertheilte er die Composition auf
11 mäßige Bilder) um es mit sich nehmen und überall vorweisen zu können.
Denn der Entschluß, Mailand zu verlassen, und in der Heimath Florenz würdige
Aufgaben zu suchen, mußte ihm schon damals nahe liegen. Wie dem sei: nur
in diesen eigenhändigen Zeichnungen ist uus der bestimmte Geist seines Werks
hente uoch erhalten, und damit von der größten Epoche christlicher Malerei ein
wichtiger Kulminationspunkt anschaulich gemacht. Deal Nichts vou gleicher
Großheit existirte damals, und was bald nachher in ähnlicher Knnstvollkommen-
heit hervorging, hat nnr in wenigen Fällen eine gleich schlichte Sachtiefe und an-
spruchslose Wahrheit.

Bekanntlich ist es in Leonardo's Composition das Wort Christi in der Jünger
Mitte: „Einer von Euch wird mich verrathen", was die Motive sämmtlicher
Apostel bestimmt, und vou beideu Seiten ihre Gruppen nach der Hauptfigur hin
bezieht und bewegt. Jedem Apostel ist ein Charakter gegeben, der ihn für das
überraschende Wort ans eigene Weise erregbar macht, so daß sich dessen Wirkung
in den mannichfaltigsten Affecten fühlbar macht. Links dem Beschauer ist der
Aeußerste am Tisch Bartholomäus, der sich eben erhoben hat und, die Hände auf
den Tisch gestützt, nach dem Herrn hinblickt. Dieser Profilkopf, der bei Marco
wenig Individualität, bei Morgheu eine nichtssagende Wohlbildnng, bei Soutiuan


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0274" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/93639"/>
          <p xml:id="ID_736" prev="#ID_735"> abhängiger vom Original, als in der Zeichnung des Rubens, der seine prägnante<lb/>
Originalität bekanntlich nicht verläugnen konnte. ANein in der Einheit und Wir¬<lb/>
kung der Lineameute, im Charakter und Gefühlsausdruck sind Marco's Kopfe<lb/>
theils stumpfer, theils einseitiger, Pietro's noch bedeutungsloser, während man<lb/>
bei Rubens in Verstand, Leben, Empfindung namentlich die Gesichter des Bar-<lb/>
tholomäus, Andreas, Petrus treuer nennen und gestehen muß, daß die Köpfe im<lb/>
Ganzen in Soutman's Kupferstich mehr Wärme nud Geist haben als in Morghen's.<lb/>
Aber die reine Gediegenheit, in der sie unsre Pastellbilder darstellen, würde man<lb/>
mit allen diesen Mitteln nicht einmal haben ahnen können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_737"> Die Pastellbilder haben ebenfalls nur ansehnliche naturgroße, nicht die<lb/>
Hälfte drüber, wie die Figuren des Wandgemäldes. Für Leonardo's Carton von<lb/>
Fertigung des Wandbildes können sie wegen dieses Größen-Unterschiedesund<lb/>
wegen ihrer ursprünglichen, für solchen Zweck uudieulichen Vertheiluug auf 11<lb/>
gleichgroße Blätter nicht gehalten werden; für vorgängige Studien auch uicht<lb/>
wohl, weil gar zu wenig, was einem Pentimento gliche, an ihnen entdeckbar, die<lb/>
Composition schon völlig bestimmt in allen Motiven an ihnen vorhanden, und ihre<lb/>
Darstellung so geistig entschieden als handfrei ist. Ick) nehme an, um das Jahr<lb/>
1L00, als das Wandgemälde schon fertig, aber noch in seinem Geiste warm<lb/>
lebendig war, sah Leonardo den Untergang desselben in diesem Local (wie er als<lb/>
denkender Techniker und großer Naturkundiger mußte) bereits voraus; er wiederholte<lb/>
also das Wesentlichste seiner Schöpfung in der ihm sehr geläufigen Pastellmalerei,<lb/>
theils um es zu erhalten, theils (und darum vertheilte er die Composition auf<lb/>
11 mäßige Bilder) um es mit sich nehmen und überall vorweisen zu können.<lb/>
Denn der Entschluß, Mailand zu verlassen, und in der Heimath Florenz würdige<lb/>
Aufgaben zu suchen, mußte ihm schon damals nahe liegen. Wie dem sei: nur<lb/>
in diesen eigenhändigen Zeichnungen ist uus der bestimmte Geist seines Werks<lb/>
hente uoch erhalten, und damit von der größten Epoche christlicher Malerei ein<lb/>
wichtiger Kulminationspunkt anschaulich gemacht. Deal Nichts vou gleicher<lb/>
Großheit existirte damals, und was bald nachher in ähnlicher Knnstvollkommen-<lb/>
heit hervorging, hat nnr in wenigen Fällen eine gleich schlichte Sachtiefe und an-<lb/>
spruchslose Wahrheit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_738" next="#ID_739"> Bekanntlich ist es in Leonardo's Composition das Wort Christi in der Jünger<lb/>
Mitte: &#x201E;Einer von Euch wird mich verrathen", was die Motive sämmtlicher<lb/>
Apostel bestimmt, und vou beideu Seiten ihre Gruppen nach der Hauptfigur hin<lb/>
bezieht und bewegt. Jedem Apostel ist ein Charakter gegeben, der ihn für das<lb/>
überraschende Wort ans eigene Weise erregbar macht, so daß sich dessen Wirkung<lb/>
in den mannichfaltigsten Affecten fühlbar macht. Links dem Beschauer ist der<lb/>
Aeußerste am Tisch Bartholomäus, der sich eben erhoben hat und, die Hände auf<lb/>
den Tisch gestützt, nach dem Herrn hinblickt. Dieser Profilkopf, der bei Marco<lb/>
wenig Individualität, bei Morgheu eine nichtssagende Wohlbildnng, bei Soutiuan</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0274] abhängiger vom Original, als in der Zeichnung des Rubens, der seine prägnante Originalität bekanntlich nicht verläugnen konnte. ANein in der Einheit und Wir¬ kung der Lineameute, im Charakter und Gefühlsausdruck sind Marco's Kopfe theils stumpfer, theils einseitiger, Pietro's noch bedeutungsloser, während man bei Rubens in Verstand, Leben, Empfindung namentlich die Gesichter des Bar- tholomäus, Andreas, Petrus treuer nennen und gestehen muß, daß die Köpfe im Ganzen in Soutman's Kupferstich mehr Wärme nud Geist haben als in Morghen's. Aber die reine Gediegenheit, in der sie unsre Pastellbilder darstellen, würde man mit allen diesen Mitteln nicht einmal haben ahnen können. Die Pastellbilder haben ebenfalls nur ansehnliche naturgroße, nicht die Hälfte drüber, wie die Figuren des Wandgemäldes. Für Leonardo's Carton von Fertigung des Wandbildes können sie wegen dieses Größen-Unterschiedesund wegen ihrer ursprünglichen, für solchen Zweck uudieulichen Vertheiluug auf 11 gleichgroße Blätter nicht gehalten werden; für vorgängige Studien auch uicht wohl, weil gar zu wenig, was einem Pentimento gliche, an ihnen entdeckbar, die Composition schon völlig bestimmt in allen Motiven an ihnen vorhanden, und ihre Darstellung so geistig entschieden als handfrei ist. Ick) nehme an, um das Jahr 1L00, als das Wandgemälde schon fertig, aber noch in seinem Geiste warm lebendig war, sah Leonardo den Untergang desselben in diesem Local (wie er als denkender Techniker und großer Naturkundiger mußte) bereits voraus; er wiederholte also das Wesentlichste seiner Schöpfung in der ihm sehr geläufigen Pastellmalerei, theils um es zu erhalten, theils (und darum vertheilte er die Composition auf 11 mäßige Bilder) um es mit sich nehmen und überall vorweisen zu können. Denn der Entschluß, Mailand zu verlassen, und in der Heimath Florenz würdige Aufgaben zu suchen, mußte ihm schon damals nahe liegen. Wie dem sei: nur in diesen eigenhändigen Zeichnungen ist uus der bestimmte Geist seines Werks hente uoch erhalten, und damit von der größten Epoche christlicher Malerei ein wichtiger Kulminationspunkt anschaulich gemacht. Deal Nichts vou gleicher Großheit existirte damals, und was bald nachher in ähnlicher Knnstvollkommen- heit hervorging, hat nnr in wenigen Fällen eine gleich schlichte Sachtiefe und an- spruchslose Wahrheit. Bekanntlich ist es in Leonardo's Composition das Wort Christi in der Jünger Mitte: „Einer von Euch wird mich verrathen", was die Motive sämmtlicher Apostel bestimmt, und vou beideu Seiten ihre Gruppen nach der Hauptfigur hin bezieht und bewegt. Jedem Apostel ist ein Charakter gegeben, der ihn für das überraschende Wort ans eigene Weise erregbar macht, so daß sich dessen Wirkung in den mannichfaltigsten Affecten fühlbar macht. Links dem Beschauer ist der Aeußerste am Tisch Bartholomäus, der sich eben erhoben hat und, die Hände auf den Tisch gestützt, nach dem Herrn hinblickt. Dieser Profilkopf, der bei Marco wenig Individualität, bei Morgheu eine nichtssagende Wohlbildnng, bei Soutiuan

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/274
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/274>, abgerufen am 22.07.2024.