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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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die Landschaft erscheint in ihrer vollen Selbständigkeit, als ein Ganzes in
Auffassung und Ausführung, und nicht blos äußerlich als Grundlage und
Umgebung des menschlichen Thuns und Treibens. Vielmehr ist die Darstellung
der Natur der Ausgangspunkt. Die poetische Auffassung derselben bedingt
und motivirt die Auffassung des Menschen, der nur im Zusammenhang mit
derselben gedacht ist, und-die Stimmung in der Natur, welche der Künstler in der
Landschaft sich unmittelbar aussprechen läßt, wird von ihm durch die Darstellung
des Menschen, der sie theilt, objectivirt und in das Gebiet des Geistigen und
Sittlichen erhoben. Nur einer sittlich und künstlerisch wahr und tief empfin¬
denden Natur ist es verliehen, diese höchste Einheit zu erfassen, und von diesem
Mittelpunkt aus mit der unendlichen Fülle der mannichfaltigen und bunten
Erscheinungen frei zu schalten, ohne deren Reichthum eine lebendige Kunst-
schöpfung nicht möglich ist. Für einen solchen wahren Künstler eristiren schul¬
mäßige Gegensätze nicht, wie die von Genre und Landschaft; aus sich heraus
schafft er Werke, an denen die Theorie lernen mag, daß die echte Kunst frei
und unerschöpflich ist, wie die Natur, deren Grundgesetze auch die ihri¬
gen sind.

Die Abendandacht, welche durch einen Stich von Witthöft auch in
weiteren Kreisen bekannt ist, und zu den größeren Bildern Richter's zu zählen ist,
kann von diesem Charakter eine anschauliche Vorstellung geben. Ein Paar
ungeheure alte Bäume, deren Kronen sich zu einem schattigen Laubdach ver¬
einigen, stehen im Vordergrund, und breiten über diesen eine kühle Dämmerung
aus. Zwischen den mächtigen Stämmen hindurch sieht man über ein Feld
und in einen hellen Abendhimmel, der von dem Licht der untergehenden Sonne
ganz durchglüht ist; es war ein heißer Tag, von dessen Schwüle sich die
Natur im Schatten des Abends auszuruhen beginnt. Bor den Bäumen kniet
hell beschienen eine Schaar von Schnittern, ein Mann, Frauen, Mädchen und
Kinder, im stillen Gebet. Sie haben ihr Geräth und ihre Körbe mit den
Garben abgelegt; auch sie haben einen heißen Tag gehabt, und genießen der stillen
Ruhe und ernsten Sammlung des Abends in frommer Andacht. Mannichfach
nuancirt ist diese Stimmung in den einzelnen Gestalten; die in sich versenkte
Andacht des Mannes, der schwärmerische Ausblick eines heranwachsenden
Mädchens, die innige gehaltene Ruhe der Jungfrau, die herzliche Zufriedenheit
der jungen Mutter mit ihrem Kinde, sie bilden eben so viele ausdrucksvolle Züge
der Stimmung, deren letzte Schwingungen in dem von der Feierlichkeit des
Augenblicks betroffenen Knaben und dem kleinen Mädchen, das sich ins Gras
gelegt hat und ausruht, verklingen. An dem Baumstamm ist ein Mutter¬
gottesbild angebracht, und auf der andern Seite desselben läutet ein Mönch
zum Ave Maria. Aber diese Symbole des Cultus sind nicht die eigentlichen
Träger der hier herrschenden Stimmung. Der Abend senkt seinen stillen seligen


die Landschaft erscheint in ihrer vollen Selbständigkeit, als ein Ganzes in
Auffassung und Ausführung, und nicht blos äußerlich als Grundlage und
Umgebung des menschlichen Thuns und Treibens. Vielmehr ist die Darstellung
der Natur der Ausgangspunkt. Die poetische Auffassung derselben bedingt
und motivirt die Auffassung des Menschen, der nur im Zusammenhang mit
derselben gedacht ist, und-die Stimmung in der Natur, welche der Künstler in der
Landschaft sich unmittelbar aussprechen läßt, wird von ihm durch die Darstellung
des Menschen, der sie theilt, objectivirt und in das Gebiet des Geistigen und
Sittlichen erhoben. Nur einer sittlich und künstlerisch wahr und tief empfin¬
denden Natur ist es verliehen, diese höchste Einheit zu erfassen, und von diesem
Mittelpunkt aus mit der unendlichen Fülle der mannichfaltigen und bunten
Erscheinungen frei zu schalten, ohne deren Reichthum eine lebendige Kunst-
schöpfung nicht möglich ist. Für einen solchen wahren Künstler eristiren schul¬
mäßige Gegensätze nicht, wie die von Genre und Landschaft; aus sich heraus
schafft er Werke, an denen die Theorie lernen mag, daß die echte Kunst frei
und unerschöpflich ist, wie die Natur, deren Grundgesetze auch die ihri¬
gen sind.

Die Abendandacht, welche durch einen Stich von Witthöft auch in
weiteren Kreisen bekannt ist, und zu den größeren Bildern Richter's zu zählen ist,
kann von diesem Charakter eine anschauliche Vorstellung geben. Ein Paar
ungeheure alte Bäume, deren Kronen sich zu einem schattigen Laubdach ver¬
einigen, stehen im Vordergrund, und breiten über diesen eine kühle Dämmerung
aus. Zwischen den mächtigen Stämmen hindurch sieht man über ein Feld
und in einen hellen Abendhimmel, der von dem Licht der untergehenden Sonne
ganz durchglüht ist; es war ein heißer Tag, von dessen Schwüle sich die
Natur im Schatten des Abends auszuruhen beginnt. Bor den Bäumen kniet
hell beschienen eine Schaar von Schnittern, ein Mann, Frauen, Mädchen und
Kinder, im stillen Gebet. Sie haben ihr Geräth und ihre Körbe mit den
Garben abgelegt; auch sie haben einen heißen Tag gehabt, und genießen der stillen
Ruhe und ernsten Sammlung des Abends in frommer Andacht. Mannichfach
nuancirt ist diese Stimmung in den einzelnen Gestalten; die in sich versenkte
Andacht des Mannes, der schwärmerische Ausblick eines heranwachsenden
Mädchens, die innige gehaltene Ruhe der Jungfrau, die herzliche Zufriedenheit
der jungen Mutter mit ihrem Kinde, sie bilden eben so viele ausdrucksvolle Züge
der Stimmung, deren letzte Schwingungen in dem von der Feierlichkeit des
Augenblicks betroffenen Knaben und dem kleinen Mädchen, das sich ins Gras
gelegt hat und ausruht, verklingen. An dem Baumstamm ist ein Mutter¬
gottesbild angebracht, und auf der andern Seite desselben läutet ein Mönch
zum Ave Maria. Aber diese Symbole des Cultus sind nicht die eigentlichen
Träger der hier herrschenden Stimmung. Der Abend senkt seinen stillen seligen


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[0216] die Landschaft erscheint in ihrer vollen Selbständigkeit, als ein Ganzes in Auffassung und Ausführung, und nicht blos äußerlich als Grundlage und Umgebung des menschlichen Thuns und Treibens. Vielmehr ist die Darstellung der Natur der Ausgangspunkt. Die poetische Auffassung derselben bedingt und motivirt die Auffassung des Menschen, der nur im Zusammenhang mit derselben gedacht ist, und-die Stimmung in der Natur, welche der Künstler in der Landschaft sich unmittelbar aussprechen läßt, wird von ihm durch die Darstellung des Menschen, der sie theilt, objectivirt und in das Gebiet des Geistigen und Sittlichen erhoben. Nur einer sittlich und künstlerisch wahr und tief empfin¬ denden Natur ist es verliehen, diese höchste Einheit zu erfassen, und von diesem Mittelpunkt aus mit der unendlichen Fülle der mannichfaltigen und bunten Erscheinungen frei zu schalten, ohne deren Reichthum eine lebendige Kunst- schöpfung nicht möglich ist. Für einen solchen wahren Künstler eristiren schul¬ mäßige Gegensätze nicht, wie die von Genre und Landschaft; aus sich heraus schafft er Werke, an denen die Theorie lernen mag, daß die echte Kunst frei und unerschöpflich ist, wie die Natur, deren Grundgesetze auch die ihri¬ gen sind. Die Abendandacht, welche durch einen Stich von Witthöft auch in weiteren Kreisen bekannt ist, und zu den größeren Bildern Richter's zu zählen ist, kann von diesem Charakter eine anschauliche Vorstellung geben. Ein Paar ungeheure alte Bäume, deren Kronen sich zu einem schattigen Laubdach ver¬ einigen, stehen im Vordergrund, und breiten über diesen eine kühle Dämmerung aus. Zwischen den mächtigen Stämmen hindurch sieht man über ein Feld und in einen hellen Abendhimmel, der von dem Licht der untergehenden Sonne ganz durchglüht ist; es war ein heißer Tag, von dessen Schwüle sich die Natur im Schatten des Abends auszuruhen beginnt. Bor den Bäumen kniet hell beschienen eine Schaar von Schnittern, ein Mann, Frauen, Mädchen und Kinder, im stillen Gebet. Sie haben ihr Geräth und ihre Körbe mit den Garben abgelegt; auch sie haben einen heißen Tag gehabt, und genießen der stillen Ruhe und ernsten Sammlung des Abends in frommer Andacht. Mannichfach nuancirt ist diese Stimmung in den einzelnen Gestalten; die in sich versenkte Andacht des Mannes, der schwärmerische Ausblick eines heranwachsenden Mädchens, die innige gehaltene Ruhe der Jungfrau, die herzliche Zufriedenheit der jungen Mutter mit ihrem Kinde, sie bilden eben so viele ausdrucksvolle Züge der Stimmung, deren letzte Schwingungen in dem von der Feierlichkeit des Augenblicks betroffenen Knaben und dem kleinen Mädchen, das sich ins Gras gelegt hat und ausruht, verklingen. An dem Baumstamm ist ein Mutter¬ gottesbild angebracht, und auf der andern Seite desselben läutet ein Mönch zum Ave Maria. Aber diese Symbole des Cultus sind nicht die eigentlichen Träger der hier herrschenden Stimmung. Der Abend senkt seinen stillen seligen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/216>, abgerufen am 22.07.2024.