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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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dafür geben die Ensembles, die sicher allein als der Prüfstein für die Befähigung
eines dramatischen Komponisten gelten dürfen. Von besonderer Wichtigkeit sind
in dieser Oper ferner die Chöre, nicht nur, weil sie dem Musiker von Fach
vor Frende das Herz erschließen über die vortreffliche musikalische Behandlung,
über die Gediegenheit in der Ausführung, sie sind anch darum von großer Wir¬
kung, weil sie nicht blos der Theatergewohnheit halber erscheinen, sondern wir¬
kungsvoll in das Ganze eingreifen und mit dem Hauptträger des sujets in der
genauesten Wechselwirkung stehen.

Zwischen diesen beiden Hauptwerken steht mitten inne die Oper: der Tem¬
pler und die Jüdin. Was das Buch derselben betrifft, so gibt es wohl kaum
eine unglücklichere Verstümmelung irgend eines guten Romans, als hier des Ivanhoe
von Walter Scott. Fast jeder innere Zusammenhang fehlt, die Scenen sind lose
aneinander gereiht, so planlos, daß man sich oft verwundert frägt, in welchem Zu¬
sammenhange wohl dieser Auftritt mit dem vorhergehenden stehen möge. Trotz diesem
Uebelstande bietet das Sujet eine solche Menge dramatisch-musikalischer Momente,
daß der Komponist in genügendem Maße Gelegenheit findet, die Unebenheiten des
Buches zu verdecken und die Aufmerksamkeit der Zuhörer seiner Kunst allein zuzu¬
wenden. Die Musik dieser Oper hält, wie auch die Zeit ihres Erscheinens natürlich
macht, hinsichtlich ihres Werthes, die genane Mitte zwischen dem Vampyr und dem
Hans Helling. Marschner hat sich schon ans erkennbare Weise der Weber'schen Me¬
thode entfremdet, ist aber noch nicht befreit von Fesseln, die sie seinem Talente auflegt.

Genauere Blicke in die Partitur zeigen deutlich, wie sein ernstes Bestreben dar¬
auf hinging, der Kunstwelt zu zeigen, daß er selbstständig sein wolle,, nur war die
Kraft uoch schwächer als der Wille, und so macht das Werk, vom rein musika¬
lischen Gesichtspunkte ans betrachtet, einen minder günstigen Eindruck, als die
beiden vorhergenannten, da man dem ersten wegen seiner gleichmäßigen Färbung
sich lieber zuneigt, und das zweite durch seine Selbstständigkeit völlige Befriedi¬
gung gewährt. Auch in Beziehung auf die Ausführbarkeit der einzelnen Gesangs¬
partien erregen jene beiden dem Zuhörer weniger Pein, so schwer auch die Parder
des Vampyr geschrieben sind, so viele musikalische Sicherheit auch die sämmtlichen
Rollen des Hans Helling verlangen. Ungeheuerlicher sind die Stimmen des
Templers und der Rebecca, oft fast ganz unausführbar und einen so großen
Aufwand von physischen Kräften verlangend, daß sogar Sänger in die Be¬
dingungen ihres Contracts mit aufnehmen ließen, man müsse sie mit dem Singen
Marschner'schen Opern verschonen. Fast alle Widerwärtigkeiten, die je einem
Sänger begegnen können, finden sich in diesen Partien; sie sind zu hoch geschrieben,
als daß sie ein Sänger längere Zeit auszuführen im Stande wäre, sie haben dazu
in den hohen Lagen die schlechtesten Vocale, schwere Einsätze finden sich in
Menge n. s. w. Alles Ursache genug, sie unsern Sängern unleidlich zu machen.
Doch bleibt ihre Wirksamkeit unbestritten, weil ihnen das melodieuse Element


dafür geben die Ensembles, die sicher allein als der Prüfstein für die Befähigung
eines dramatischen Komponisten gelten dürfen. Von besonderer Wichtigkeit sind
in dieser Oper ferner die Chöre, nicht nur, weil sie dem Musiker von Fach
vor Frende das Herz erschließen über die vortreffliche musikalische Behandlung,
über die Gediegenheit in der Ausführung, sie sind anch darum von großer Wir¬
kung, weil sie nicht blos der Theatergewohnheit halber erscheinen, sondern wir¬
kungsvoll in das Ganze eingreifen und mit dem Hauptträger des sujets in der
genauesten Wechselwirkung stehen.

Zwischen diesen beiden Hauptwerken steht mitten inne die Oper: der Tem¬
pler und die Jüdin. Was das Buch derselben betrifft, so gibt es wohl kaum
eine unglücklichere Verstümmelung irgend eines guten Romans, als hier des Ivanhoe
von Walter Scott. Fast jeder innere Zusammenhang fehlt, die Scenen sind lose
aneinander gereiht, so planlos, daß man sich oft verwundert frägt, in welchem Zu¬
sammenhange wohl dieser Auftritt mit dem vorhergehenden stehen möge. Trotz diesem
Uebelstande bietet das Sujet eine solche Menge dramatisch-musikalischer Momente,
daß der Komponist in genügendem Maße Gelegenheit findet, die Unebenheiten des
Buches zu verdecken und die Aufmerksamkeit der Zuhörer seiner Kunst allein zuzu¬
wenden. Die Musik dieser Oper hält, wie auch die Zeit ihres Erscheinens natürlich
macht, hinsichtlich ihres Werthes, die genane Mitte zwischen dem Vampyr und dem
Hans Helling. Marschner hat sich schon ans erkennbare Weise der Weber'schen Me¬
thode entfremdet, ist aber noch nicht befreit von Fesseln, die sie seinem Talente auflegt.

Genauere Blicke in die Partitur zeigen deutlich, wie sein ernstes Bestreben dar¬
auf hinging, der Kunstwelt zu zeigen, daß er selbstständig sein wolle,, nur war die
Kraft uoch schwächer als der Wille, und so macht das Werk, vom rein musika¬
lischen Gesichtspunkte ans betrachtet, einen minder günstigen Eindruck, als die
beiden vorhergenannten, da man dem ersten wegen seiner gleichmäßigen Färbung
sich lieber zuneigt, und das zweite durch seine Selbstständigkeit völlige Befriedi¬
gung gewährt. Auch in Beziehung auf die Ausführbarkeit der einzelnen Gesangs¬
partien erregen jene beiden dem Zuhörer weniger Pein, so schwer auch die Parder
des Vampyr geschrieben sind, so viele musikalische Sicherheit auch die sämmtlichen
Rollen des Hans Helling verlangen. Ungeheuerlicher sind die Stimmen des
Templers und der Rebecca, oft fast ganz unausführbar und einen so großen
Aufwand von physischen Kräften verlangend, daß sogar Sänger in die Be¬
dingungen ihres Contracts mit aufnehmen ließen, man müsse sie mit dem Singen
Marschner'schen Opern verschonen. Fast alle Widerwärtigkeiten, die je einem
Sänger begegnen können, finden sich in diesen Partien; sie sind zu hoch geschrieben,
als daß sie ein Sänger längere Zeit auszuführen im Stande wäre, sie haben dazu
in den hohen Lagen die schlechtesten Vocale, schwere Einsätze finden sich in
Menge n. s. w. Alles Ursache genug, sie unsern Sängern unleidlich zu machen.
Doch bleibt ihre Wirksamkeit unbestritten, weil ihnen das melodieuse Element


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/62>, abgerufen am 27.06.2024.