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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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armen Schelme waren ganz blaß und abgemagert; einen erkannte ich, aber ich
war zu glücklich, um uach Rache zu dürsten; sie verdienten den Tod nicht, nur
der Officier war schuldig, und ich befahl, sie in Freiheit zu setzen. Jetzt fielen
die Armen vor mir auf die Knie, und umfaßten meine Füße und riefen mit
Thränen: "Gnädiger Herr, wenn Sie wüßten, was wir Alles gelitten haben!"
-- "Liebe Freunde," sagte ich, "ich habe auch etwas erfahren." Ich gab ihnen
Geld und befahl, für sie in einem Gasthause Essen zu bezahlen. Am 15. Sep¬
tember verließ ich Semlin mit dem Dampfschiff und fuhr die Sau hinauf und
kam in Gratz an: lange Zeit hatte man mich für todt gehalten, aber doch hatte
man bei meiner Mutter die Hoffnung aufrecht erhalten, mich noch lebend zu sehen.
Anfangs, als ich verschwunden war, hatte man geglaubt, ich sei in der Donau
ertrunken oder bei Palanka erschossen worden; später erfuhr man, daß ich in
Peterwardein war, noch später, daß ich mit meinen vier Leidensgenossen ver¬
urtheilt worden sei, und da Leute aus Neusatz versichert hatten, ich sei erschossen
worden, hatten meine Familie und meine Kameraden alle Hoffnung aufgegeben,
mich wiederzusehen. Einige Tage nach meiner Ankunft in Gratz fand ich auf
meinem Tisch die Fensterscheiben aus meiner Käsematte; ein' Freund, der sich nach
der Uebergabe von Peterwardein mein Gefängniß hatte zeigen lassen, hatte die
Scheiben aufgehoben und sie mir zur Erinnerung an meine Leidenszeit überschickt.




Wochenschau.
Neuigkeiten des französischen Theaters.

-- Im Allgemeinen haben die
Franzosen in neuerer Zeit die Neigung, ihre Stücke in Prosa zu schreiben, wie sie
überhaupt jede Unbequemlichkeit, die künstlerische Anforderungen oder historische Gewis¬
senhaftigkeit ihnen entgegensetzen, so viel als irgend, möglich zu vermeiden suchen. Doch
gilt bei alle dem das Drama in Versen noch immer als die höhere Kunstgattung. Un¬
ter allen Pariser Theatern ist es das Odvon, welches die Versuche junger Dichter, in
Alexandrinern zu schreiben, am meisten begünstigt. Aus diesem Theater sind Ponsard,
Emile An gier und mehrere Andere hervorgegangen, die in neuerer Zeit nicht ohne Er¬
folg das Drama in Versen angebaut haben. Noch vor kurzem erregte die Sappho von
Philoxene Boy er, über welche wir seiner Zeit berichtet haben, auf diesem Theater die
Theilnahme des kunstliebenden Publicums. Ein neues snnfactiges Stück, Don Gas-
par von Atrien Lclioux, welches volle vier Stunden dauert, hat einen noch größeren
Erfolg erreicht. Es spielt zu den Zeiten Philipp's II. und der Inquisition. Don
Gaspar ist von derselben für irgend ein Verbrechen zum Tode verurtheilt, und man
glaubt, daß er im Kerker gestorben sei; er ist aber durch die Aufopferung eines Ker¬
kermeisters gerettet und spielt auf den Straßen von Madrid die Rolle eines Bettlers
und Wahrsagers. Ganz Madrid fürchtet ihn, denn es gibt kein Geheimniß, das ihm


armen Schelme waren ganz blaß und abgemagert; einen erkannte ich, aber ich
war zu glücklich, um uach Rache zu dürsten; sie verdienten den Tod nicht, nur
der Officier war schuldig, und ich befahl, sie in Freiheit zu setzen. Jetzt fielen
die Armen vor mir auf die Knie, und umfaßten meine Füße und riefen mit
Thränen: „Gnädiger Herr, wenn Sie wüßten, was wir Alles gelitten haben!"
— „Liebe Freunde," sagte ich, „ich habe auch etwas erfahren." Ich gab ihnen
Geld und befahl, für sie in einem Gasthause Essen zu bezahlen. Am 15. Sep¬
tember verließ ich Semlin mit dem Dampfschiff und fuhr die Sau hinauf und
kam in Gratz an: lange Zeit hatte man mich für todt gehalten, aber doch hatte
man bei meiner Mutter die Hoffnung aufrecht erhalten, mich noch lebend zu sehen.
Anfangs, als ich verschwunden war, hatte man geglaubt, ich sei in der Donau
ertrunken oder bei Palanka erschossen worden; später erfuhr man, daß ich in
Peterwardein war, noch später, daß ich mit meinen vier Leidensgenossen ver¬
urtheilt worden sei, und da Leute aus Neusatz versichert hatten, ich sei erschossen
worden, hatten meine Familie und meine Kameraden alle Hoffnung aufgegeben,
mich wiederzusehen. Einige Tage nach meiner Ankunft in Gratz fand ich auf
meinem Tisch die Fensterscheiben aus meiner Käsematte; ein' Freund, der sich nach
der Uebergabe von Peterwardein mein Gefängniß hatte zeigen lassen, hatte die
Scheiben aufgehoben und sie mir zur Erinnerung an meine Leidenszeit überschickt.




Wochenschau.
Neuigkeiten des französischen Theaters.

— Im Allgemeinen haben die
Franzosen in neuerer Zeit die Neigung, ihre Stücke in Prosa zu schreiben, wie sie
überhaupt jede Unbequemlichkeit, die künstlerische Anforderungen oder historische Gewis¬
senhaftigkeit ihnen entgegensetzen, so viel als irgend, möglich zu vermeiden suchen. Doch
gilt bei alle dem das Drama in Versen noch immer als die höhere Kunstgattung. Un¬
ter allen Pariser Theatern ist es das Odvon, welches die Versuche junger Dichter, in
Alexandrinern zu schreiben, am meisten begünstigt. Aus diesem Theater sind Ponsard,
Emile An gier und mehrere Andere hervorgegangen, die in neuerer Zeit nicht ohne Er¬
folg das Drama in Versen angebaut haben. Noch vor kurzem erregte die Sappho von
Philoxene Boy er, über welche wir seiner Zeit berichtet haben, auf diesem Theater die
Theilnahme des kunstliebenden Publicums. Ein neues snnfactiges Stück, Don Gas-
par von Atrien Lclioux, welches volle vier Stunden dauert, hat einen noch größeren
Erfolg erreicht. Es spielt zu den Zeiten Philipp's II. und der Inquisition. Don
Gaspar ist von derselben für irgend ein Verbrechen zum Tode verurtheilt, und man
glaubt, daß er im Kerker gestorben sei; er ist aber durch die Aufopferung eines Ker¬
kermeisters gerettet und spielt auf den Straßen von Madrid die Rolle eines Bettlers
und Wahrsagers. Ganz Madrid fürchtet ihn, denn es gibt kein Geheimniß, das ihm


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/524>, abgerufen am 04.07.2024.