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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Ursprung dieses Mythus ist der vou dem Stamme Sem, vou Israel ge¬
glaubte Gott, der zum Gericht heruiederfährt. Er ist im Glauben des aus-
erwählten Volkes der leibhaftige, eifrige Gott, der gerechte und strafende Vater,
welcher mit dem Gebote des Herrschers den Kindern gegenüber steht. Aber der
Protestantische Sinn des Künstlers hat ihm nicht gestattet, der Erscheinung Got¬
tes diese unbedingte Gegenständlichkeit, diese volle Realität zu geben, er konnte
sich nicht überwinden, das Wesen der Gottheit im Zorne, in der Leidenschaft des
alttestamentarischen Gottes darzustellen. Er läßt ihn nicht hernieder fahren voll
heftigen Eifers; ermahnend hebt der Herr die Hand, während seine Engel die
Strafe vollziehen, und in abgeblaßten Farben verschwimmt die Erscheinung.
Kaulbach ist zu sehr erfüllt von dem malerischen Sinne für Wahrheit und
Wirklichkeit, um dem Übersinnlichen anch nur mit dem Pinsel dieselbe Realität
zuzuschreiben, welche er in die Farbe zu legen vermag. Der Zusammenhang
zwischen diesem ruhig einherschwebendcn Gotte und der Vernichtung des mensch-
lichen Uebermuths, der Zerstreuung des Menschengeschlechts bleibt in der Phantasie
des Künstlers und muß von der Phantasie des Betrachtenden wieder ergriffen
werden, indem sie ergänzt, was die Gruppirung nur andeutet in der plötzlich,
wie aus einem Punkte hervorbrechenden Sonderung der Stämme, die ohne die
Vorstellung einer göttlichen Einwirkung undenkbar ist.

Den menschlichen Gruppen im Bilde gab der Künstler volle, sinnliche Wirk¬
lichkeit. Nur in der Komposition liegt die Allegorie; die Zeichnung der Gestalten
und die Farbe erschuf eine lebensvolle Charakteristik der dargestellten Unterschiede.
Hier hat der Künstler mit seiner Schöpfung einem realistischen Wissen von der
Natur und Geschichte des Meuschen nachgedichtet, die wunderbare Wahrheit seiner
Technik verbindet sich mit seiner geistvoll tiefen Symbolik, der Realismus des
Malers mit dem idealisirenden Denken des Philosophen, der das örtliche und
zeitliche Auseinander der Wirklichkeit als Momente der Idee zusammenfaßt. Hier
ist er ganz Größe und Schönheit, der Rafael des philosophischen Idea--
lismus. , >

Das Cinquecento ist die höchste Spitze einer sich vollendenden Culturperiode.
Die katholische Kirche hatte die Schwärmerei für den Himmel, die Sehnsucht der
Liebe zur Heilande und zu der Jungfrau Maria mit so verlockenden Sinnen¬
reiz umgeben, hatte das göttliche Ideal so ganz im schönen Bilde der Phantasie
angeschaut und sogar die irdische Heiligkeit der Märtyrer und sonstigen Heiligen
in eiuen neuen Olymp von Göttern zweiten Ranges aufgenommen, daß hier die
Kunst bereits im Ideale selbst die Einheit von Geistigkeit und Sinnlichkeit vor¬
fand, die sie nnr nachzubilden brauchte. Rafael Sanzio gab diesem katho¬
lischen Idealismus, der das Göttliche im Bilde der menschlichen Phantasie an¬
betete und das Menschliche im kirchlichen Gewände der Heiligsprechung verehrte,
den vollendetsten Ausdruck. Er malte in der sixtinischen Madonna einen Christus-


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Ursprung dieses Mythus ist der vou dem Stamme Sem, vou Israel ge¬
glaubte Gott, der zum Gericht heruiederfährt. Er ist im Glauben des aus-
erwählten Volkes der leibhaftige, eifrige Gott, der gerechte und strafende Vater,
welcher mit dem Gebote des Herrschers den Kindern gegenüber steht. Aber der
Protestantische Sinn des Künstlers hat ihm nicht gestattet, der Erscheinung Got¬
tes diese unbedingte Gegenständlichkeit, diese volle Realität zu geben, er konnte
sich nicht überwinden, das Wesen der Gottheit im Zorne, in der Leidenschaft des
alttestamentarischen Gottes darzustellen. Er läßt ihn nicht hernieder fahren voll
heftigen Eifers; ermahnend hebt der Herr die Hand, während seine Engel die
Strafe vollziehen, und in abgeblaßten Farben verschwimmt die Erscheinung.
Kaulbach ist zu sehr erfüllt von dem malerischen Sinne für Wahrheit und
Wirklichkeit, um dem Übersinnlichen anch nur mit dem Pinsel dieselbe Realität
zuzuschreiben, welche er in die Farbe zu legen vermag. Der Zusammenhang
zwischen diesem ruhig einherschwebendcn Gotte und der Vernichtung des mensch-
lichen Uebermuths, der Zerstreuung des Menschengeschlechts bleibt in der Phantasie
des Künstlers und muß von der Phantasie des Betrachtenden wieder ergriffen
werden, indem sie ergänzt, was die Gruppirung nur andeutet in der plötzlich,
wie aus einem Punkte hervorbrechenden Sonderung der Stämme, die ohne die
Vorstellung einer göttlichen Einwirkung undenkbar ist.

Den menschlichen Gruppen im Bilde gab der Künstler volle, sinnliche Wirk¬
lichkeit. Nur in der Komposition liegt die Allegorie; die Zeichnung der Gestalten
und die Farbe erschuf eine lebensvolle Charakteristik der dargestellten Unterschiede.
Hier hat der Künstler mit seiner Schöpfung einem realistischen Wissen von der
Natur und Geschichte des Meuschen nachgedichtet, die wunderbare Wahrheit seiner
Technik verbindet sich mit seiner geistvoll tiefen Symbolik, der Realismus des
Malers mit dem idealisirenden Denken des Philosophen, der das örtliche und
zeitliche Auseinander der Wirklichkeit als Momente der Idee zusammenfaßt. Hier
ist er ganz Größe und Schönheit, der Rafael des philosophischen Idea--
lismus. , >

Das Cinquecento ist die höchste Spitze einer sich vollendenden Culturperiode.
Die katholische Kirche hatte die Schwärmerei für den Himmel, die Sehnsucht der
Liebe zur Heilande und zu der Jungfrau Maria mit so verlockenden Sinnen¬
reiz umgeben, hatte das göttliche Ideal so ganz im schönen Bilde der Phantasie
angeschaut und sogar die irdische Heiligkeit der Märtyrer und sonstigen Heiligen
in eiuen neuen Olymp von Göttern zweiten Ranges aufgenommen, daß hier die
Kunst bereits im Ideale selbst die Einheit von Geistigkeit und Sinnlichkeit vor¬
fand, die sie nnr nachzubilden brauchte. Rafael Sanzio gab diesem katho¬
lischen Idealismus, der das Göttliche im Bilde der menschlichen Phantasie an¬
betete und das Menschliche im kirchlichen Gewände der Heiligsprechung verehrte,
den vollendetsten Ausdruck. Er malte in der sixtinischen Madonna einen Christus-


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[0503] Ursprung dieses Mythus ist der vou dem Stamme Sem, vou Israel ge¬ glaubte Gott, der zum Gericht heruiederfährt. Er ist im Glauben des aus- erwählten Volkes der leibhaftige, eifrige Gott, der gerechte und strafende Vater, welcher mit dem Gebote des Herrschers den Kindern gegenüber steht. Aber der Protestantische Sinn des Künstlers hat ihm nicht gestattet, der Erscheinung Got¬ tes diese unbedingte Gegenständlichkeit, diese volle Realität zu geben, er konnte sich nicht überwinden, das Wesen der Gottheit im Zorne, in der Leidenschaft des alttestamentarischen Gottes darzustellen. Er läßt ihn nicht hernieder fahren voll heftigen Eifers; ermahnend hebt der Herr die Hand, während seine Engel die Strafe vollziehen, und in abgeblaßten Farben verschwimmt die Erscheinung. Kaulbach ist zu sehr erfüllt von dem malerischen Sinne für Wahrheit und Wirklichkeit, um dem Übersinnlichen anch nur mit dem Pinsel dieselbe Realität zuzuschreiben, welche er in die Farbe zu legen vermag. Der Zusammenhang zwischen diesem ruhig einherschwebendcn Gotte und der Vernichtung des mensch- lichen Uebermuths, der Zerstreuung des Menschengeschlechts bleibt in der Phantasie des Künstlers und muß von der Phantasie des Betrachtenden wieder ergriffen werden, indem sie ergänzt, was die Gruppirung nur andeutet in der plötzlich, wie aus einem Punkte hervorbrechenden Sonderung der Stämme, die ohne die Vorstellung einer göttlichen Einwirkung undenkbar ist. Den menschlichen Gruppen im Bilde gab der Künstler volle, sinnliche Wirk¬ lichkeit. Nur in der Komposition liegt die Allegorie; die Zeichnung der Gestalten und die Farbe erschuf eine lebensvolle Charakteristik der dargestellten Unterschiede. Hier hat der Künstler mit seiner Schöpfung einem realistischen Wissen von der Natur und Geschichte des Meuschen nachgedichtet, die wunderbare Wahrheit seiner Technik verbindet sich mit seiner geistvoll tiefen Symbolik, der Realismus des Malers mit dem idealisirenden Denken des Philosophen, der das örtliche und zeitliche Auseinander der Wirklichkeit als Momente der Idee zusammenfaßt. Hier ist er ganz Größe und Schönheit, der Rafael des philosophischen Idea-- lismus. , > Das Cinquecento ist die höchste Spitze einer sich vollendenden Culturperiode. Die katholische Kirche hatte die Schwärmerei für den Himmel, die Sehnsucht der Liebe zur Heilande und zu der Jungfrau Maria mit so verlockenden Sinnen¬ reiz umgeben, hatte das göttliche Ideal so ganz im schönen Bilde der Phantasie angeschaut und sogar die irdische Heiligkeit der Märtyrer und sonstigen Heiligen in eiuen neuen Olymp von Göttern zweiten Ranges aufgenommen, daß hier die Kunst bereits im Ideale selbst die Einheit von Geistigkeit und Sinnlichkeit vor¬ fand, die sie nnr nachzubilden brauchte. Rafael Sanzio gab diesem katho¬ lischen Idealismus, der das Göttliche im Bilde der menschlichen Phantasie an¬ betete und das Menschliche im kirchlichen Gewände der Heiligsprechung verehrte, den vollendetsten Ausdruck. Er malte in der sixtinischen Madonna einen Christus- 62"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/503>, abgerufen am 24.07.2024.