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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Der Winterschlaf Preußens.

Der Vincke'sche Antrag auf Niedersetzung einer Commission zur Beurtheilung
der Lage des Landes ist mit 228 gegen 41 Stimmen dnrch einfache Tagesord¬
nung beseitigt worden. Das Resultat ist nicht deswegen so auffallend, weil die
liberale Partei dabei in sehr entschiedener Minorität geblieben war, sondern des¬
halb, weil bei diesem Mißtrauensvotum gegen das gegenwärtige Ministerium die
Führer der liberalen Partei von einem großen Theil ihrer eignen Fraction ver¬
lassen wurden. Dieser Mangel an Muth bei entschieden liberalen Männern hat
keinen andern Grund, als den, daß sie sich mit ihrer Opposition vereinsamt fühlen
und empfinden, daß ihre Wähler nicht mit warmem Interesse hinter ihnen stehen, und
daß bei der gegenwärtigen unzufriedenen Abspannung in allen Provinzen des Staates,
bei den drückenden Lasten, welche die letzte abenteuerliche Mobilmachung dem Lande
auferlegt, uach drei Jahren der Unsicherheit und der ungewöhnlichsten Schwankungen
aller Werthe, der Staat vor Allem Ruhe brauche, um wieder zu Kräften zu kommen.

Dazu kommt, daß durch die zahlreichen gescheiterten Verfassungsprojecte, das
viele Octroyiren, das unaufhörliche resultatlose Wählen von Deputirten und die
brüskem Verfolgungen der demokratischen Partei die Masse des Volkes kalt gegen
das ganze constitutionelle Leben der Gegenwart geworden ist, daß das neue Ge¬
meindegesetz, die neue Classeusteuer, die Ablösuugsgesetze, die projectirten Grund-'
steuerveränderuugen in den Provinzen die politische Aufmerksamkeit vielfach zer¬
streuen und eine Meuge vou Unzufriedenen und Erbitterten gemacht haben, welche
der erlittenem oder drohenden Privatverluste wegen mit der "Revolution" grollen,
und ärgerlich und verstimmt mit den innern Reformen hadern. Und so macht gegen^
wärtig auch das preußische Volk allerdings nicht den Eindruck eiuer starken und
thatkräftigen Nation, welche weiß, was sie will. Solche Uebergangszeiten finden
sich in der Geschichte aller, mich der gesündesten Völker, sie sind weniger eine
Folge der leidenschaftlichen Aufregungen in deu Völkern, als eine Folge der Ver¬
wirrung, in welche dnrch eine schlechte Regierung die Rechtsbegriffe, die Ver¬
waltung, die Gefühle und Wünsche der Parteien kommen. So wie der
Taumel des Jahres 18^8 in Preußen und seine constituirende Versammlung durch
das ungeschickte Verhalten der Staatsregierung von 1840 bis 48 und dnrch den
Mangel einer Verfassung hervorgerufen wurden, so ist die gegenwärtige Lethargie
wieder zum großen Theil den rettenden Thaten des Ministeriums, und der ma߬
losen Unsicherheit zuzuschreiben, welche seit dem Sommer 1849 in der Politik und
Gesetzgebung des Staates herrschte.

Diese Zeit der Abspannung in dem mächtigsten deutschen Staat ist deshalb
so verhängnißvoll, weil sie dem gegenwärtigen Ministerium freie Hand läßt, auf


Der Winterschlaf Preußens.

Der Vincke'sche Antrag auf Niedersetzung einer Commission zur Beurtheilung
der Lage des Landes ist mit 228 gegen 41 Stimmen dnrch einfache Tagesord¬
nung beseitigt worden. Das Resultat ist nicht deswegen so auffallend, weil die
liberale Partei dabei in sehr entschiedener Minorität geblieben war, sondern des¬
halb, weil bei diesem Mißtrauensvotum gegen das gegenwärtige Ministerium die
Führer der liberalen Partei von einem großen Theil ihrer eignen Fraction ver¬
lassen wurden. Dieser Mangel an Muth bei entschieden liberalen Männern hat
keinen andern Grund, als den, daß sie sich mit ihrer Opposition vereinsamt fühlen
und empfinden, daß ihre Wähler nicht mit warmem Interesse hinter ihnen stehen, und
daß bei der gegenwärtigen unzufriedenen Abspannung in allen Provinzen des Staates,
bei den drückenden Lasten, welche die letzte abenteuerliche Mobilmachung dem Lande
auferlegt, uach drei Jahren der Unsicherheit und der ungewöhnlichsten Schwankungen
aller Werthe, der Staat vor Allem Ruhe brauche, um wieder zu Kräften zu kommen.

Dazu kommt, daß durch die zahlreichen gescheiterten Verfassungsprojecte, das
viele Octroyiren, das unaufhörliche resultatlose Wählen von Deputirten und die
brüskem Verfolgungen der demokratischen Partei die Masse des Volkes kalt gegen
das ganze constitutionelle Leben der Gegenwart geworden ist, daß das neue Ge¬
meindegesetz, die neue Classeusteuer, die Ablösuugsgesetze, die projectirten Grund-'
steuerveränderuugen in den Provinzen die politische Aufmerksamkeit vielfach zer¬
streuen und eine Meuge vou Unzufriedenen und Erbitterten gemacht haben, welche
der erlittenem oder drohenden Privatverluste wegen mit der „Revolution" grollen,
und ärgerlich und verstimmt mit den innern Reformen hadern. Und so macht gegen^
wärtig auch das preußische Volk allerdings nicht den Eindruck eiuer starken und
thatkräftigen Nation, welche weiß, was sie will. Solche Uebergangszeiten finden
sich in der Geschichte aller, mich der gesündesten Völker, sie sind weniger eine
Folge der leidenschaftlichen Aufregungen in deu Völkern, als eine Folge der Ver¬
wirrung, in welche dnrch eine schlechte Regierung die Rechtsbegriffe, die Ver¬
waltung, die Gefühle und Wünsche der Parteien kommen. So wie der
Taumel des Jahres 18^8 in Preußen und seine constituirende Versammlung durch
das ungeschickte Verhalten der Staatsregierung von 1840 bis 48 und dnrch den
Mangel einer Verfassung hervorgerufen wurden, so ist die gegenwärtige Lethargie
wieder zum großen Theil den rettenden Thaten des Ministeriums, und der ma߬
losen Unsicherheit zuzuschreiben, welche seit dem Sommer 1849 in der Politik und
Gesetzgebung des Staates herrschte.

Diese Zeit der Abspannung in dem mächtigsten deutschen Staat ist deshalb
so verhängnißvoll, weil sie dem gegenwärtigen Ministerium freie Hand läßt, auf


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[0480] Der Winterschlaf Preußens. Der Vincke'sche Antrag auf Niedersetzung einer Commission zur Beurtheilung der Lage des Landes ist mit 228 gegen 41 Stimmen dnrch einfache Tagesord¬ nung beseitigt worden. Das Resultat ist nicht deswegen so auffallend, weil die liberale Partei dabei in sehr entschiedener Minorität geblieben war, sondern des¬ halb, weil bei diesem Mißtrauensvotum gegen das gegenwärtige Ministerium die Führer der liberalen Partei von einem großen Theil ihrer eignen Fraction ver¬ lassen wurden. Dieser Mangel an Muth bei entschieden liberalen Männern hat keinen andern Grund, als den, daß sie sich mit ihrer Opposition vereinsamt fühlen und empfinden, daß ihre Wähler nicht mit warmem Interesse hinter ihnen stehen, und daß bei der gegenwärtigen unzufriedenen Abspannung in allen Provinzen des Staates, bei den drückenden Lasten, welche die letzte abenteuerliche Mobilmachung dem Lande auferlegt, uach drei Jahren der Unsicherheit und der ungewöhnlichsten Schwankungen aller Werthe, der Staat vor Allem Ruhe brauche, um wieder zu Kräften zu kommen. Dazu kommt, daß durch die zahlreichen gescheiterten Verfassungsprojecte, das viele Octroyiren, das unaufhörliche resultatlose Wählen von Deputirten und die brüskem Verfolgungen der demokratischen Partei die Masse des Volkes kalt gegen das ganze constitutionelle Leben der Gegenwart geworden ist, daß das neue Ge¬ meindegesetz, die neue Classeusteuer, die Ablösuugsgesetze, die projectirten Grund-' steuerveränderuugen in den Provinzen die politische Aufmerksamkeit vielfach zer¬ streuen und eine Meuge vou Unzufriedenen und Erbitterten gemacht haben, welche der erlittenem oder drohenden Privatverluste wegen mit der „Revolution" grollen, und ärgerlich und verstimmt mit den innern Reformen hadern. Und so macht gegen^ wärtig auch das preußische Volk allerdings nicht den Eindruck eiuer starken und thatkräftigen Nation, welche weiß, was sie will. Solche Uebergangszeiten finden sich in der Geschichte aller, mich der gesündesten Völker, sie sind weniger eine Folge der leidenschaftlichen Aufregungen in deu Völkern, als eine Folge der Ver¬ wirrung, in welche dnrch eine schlechte Regierung die Rechtsbegriffe, die Ver¬ waltung, die Gefühle und Wünsche der Parteien kommen. So wie der Taumel des Jahres 18^8 in Preußen und seine constituirende Versammlung durch das ungeschickte Verhalten der Staatsregierung von 1840 bis 48 und dnrch den Mangel einer Verfassung hervorgerufen wurden, so ist die gegenwärtige Lethargie wieder zum großen Theil den rettenden Thaten des Ministeriums, und der ma߬ losen Unsicherheit zuzuschreiben, welche seit dem Sommer 1849 in der Politik und Gesetzgebung des Staates herrschte. Diese Zeit der Abspannung in dem mächtigsten deutschen Staat ist deshalb so verhängnißvoll, weil sie dem gegenwärtigen Ministerium freie Hand läßt, auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/480>, abgerufen am 28.06.2024.