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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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zuge läuten, die Schwester seiner Braut in seinen Armen liegt, empfinden wir
das ganze Elend der folgenden Acte voraus.

Der zweite Act stellt uus schon in die Mitte der häuslichen Misere, Bür¬
ger liest seiner Frau seine Uebersetzung der Ilias vor und ist höchlich indignirt,
als diese nur zerstreut zuhört; sie erklärt ihm endlich > daß sie schwanger sei, und
um ihres Kindes willen die Noth fürchte, in die sie die Amtsvernachlässigung ihres
Mannes stürzen könnte. Der Gerichtsherr kommt dazu, protestirt gegen das
Recht des Genius, sich um die Amtsgeschäfte nicht zu bekümmern, und veranlaßt
ihn, seine Entlassung zu nehmen. Die poetische Stimmung, in welche ihn Molly's
Ankunft und die Erfindung der Lenore versetzt, verdrängt diese Sorge aus sei-
nem Gedächtniß,

Dritter Act. Liebesverhältniß Bürger's und Molly's im Garten. Dora,
die Gemahlin, erkennt zum ersten Male vollständig ihr ganzes Unglück; auch Bür¬
ger liest klar in seiner Seele; Donner und Blitz, er entflicht mit wilden Redens¬
arten und findet sich in einer Schenke wieder, wo die Zweifel an seinen Genius
durch die Wahrnehmung gehoben werden, daß seine Lenore bereits Eigenthum
des Volks geworden ist. Diese übrigens sehr gut ausgeführte Scene stört doch
den Zusammenhang der Handlung.

Vierter Act. Nachtscene im Hause. Molly will abreisen, um die Ehe nicht
zu stören, und macht noch ein Abschiedsgedicht an Bürger; er erkennt daraus die
Wärme ihrer Liebe, wird dadurch gleichfalls zu einer feurigen Liebeserklärung ver¬
leitet, und der Zufall will es, daß Dora diese Erklärungen uicht uur mit anhö¬
ren, sondern gewissermaßen selbst empfangen muß. Schlußtableau des Entsetzens.
In dieser Scene, die übrigens lebhaft an die entsprechende in "Dorf und Stadt"
erinnert, hat Dora den heroischen Entschluß gefaßt, sich für das Glück der bei¬
den Liebenden zu opfern. Man kann das nicht anders verstehen, als daß sie
sich tödten will; aber der Dichter, der doch wohl fühlte, daß eine solche That
dem Gewissen seines Helden eine zu große Schuld aufbürden würde, hat es im
Dunkel gelassen; es scheint zuletzt, als ob Dora nur an der Schwindsucht
stirbt, ohne irgend ein Verdienst heroischer Aufopferung.

Fünfter Act. Gruppe uuter dem Baume. Dora stirbt, von der Abend¬
sonne beleuchtet, segnet die beiden Liebenden ein, die sich übrigens mit ziemlicher
Unbefangenheit die Sache ansehen. Vorher hat sie selber den Segen von Vater
Gleim und von dem alten wahnsinnigen Onkel empfangen, und Karl August der
Große hat ihrem Gemahl eine Pension ausgesetzt, ihm einen Blüthenzweig ge¬
schenkt und dem prosaischen Gerichtsherrn den Text gelesen.

Nach allen diesen Voraussetzungen muß ich wohl über das Stück ein unbe¬
dingtes Verdammungsurtheil aussprechen. Dieses Urtheil soll aber nicht dem Dich¬
ter gelten, Es zeigt sich ein richtiges künstlerisches Gefühl in der Gruppirung der
Scenen; die Sprache, diesmal in Prosa gehalten, scheint mir, so weit ich vom


zuge läuten, die Schwester seiner Braut in seinen Armen liegt, empfinden wir
das ganze Elend der folgenden Acte voraus.

Der zweite Act stellt uus schon in die Mitte der häuslichen Misere, Bür¬
ger liest seiner Frau seine Uebersetzung der Ilias vor und ist höchlich indignirt,
als diese nur zerstreut zuhört; sie erklärt ihm endlich > daß sie schwanger sei, und
um ihres Kindes willen die Noth fürchte, in die sie die Amtsvernachlässigung ihres
Mannes stürzen könnte. Der Gerichtsherr kommt dazu, protestirt gegen das
Recht des Genius, sich um die Amtsgeschäfte nicht zu bekümmern, und veranlaßt
ihn, seine Entlassung zu nehmen. Die poetische Stimmung, in welche ihn Molly's
Ankunft und die Erfindung der Lenore versetzt, verdrängt diese Sorge aus sei-
nem Gedächtniß,

Dritter Act. Liebesverhältniß Bürger's und Molly's im Garten. Dora,
die Gemahlin, erkennt zum ersten Male vollständig ihr ganzes Unglück; auch Bür¬
ger liest klar in seiner Seele; Donner und Blitz, er entflicht mit wilden Redens¬
arten und findet sich in einer Schenke wieder, wo die Zweifel an seinen Genius
durch die Wahrnehmung gehoben werden, daß seine Lenore bereits Eigenthum
des Volks geworden ist. Diese übrigens sehr gut ausgeführte Scene stört doch
den Zusammenhang der Handlung.

Vierter Act. Nachtscene im Hause. Molly will abreisen, um die Ehe nicht
zu stören, und macht noch ein Abschiedsgedicht an Bürger; er erkennt daraus die
Wärme ihrer Liebe, wird dadurch gleichfalls zu einer feurigen Liebeserklärung ver¬
leitet, und der Zufall will es, daß Dora diese Erklärungen uicht uur mit anhö¬
ren, sondern gewissermaßen selbst empfangen muß. Schlußtableau des Entsetzens.
In dieser Scene, die übrigens lebhaft an die entsprechende in „Dorf und Stadt"
erinnert, hat Dora den heroischen Entschluß gefaßt, sich für das Glück der bei¬
den Liebenden zu opfern. Man kann das nicht anders verstehen, als daß sie
sich tödten will; aber der Dichter, der doch wohl fühlte, daß eine solche That
dem Gewissen seines Helden eine zu große Schuld aufbürden würde, hat es im
Dunkel gelassen; es scheint zuletzt, als ob Dora nur an der Schwindsucht
stirbt, ohne irgend ein Verdienst heroischer Aufopferung.

Fünfter Act. Gruppe uuter dem Baume. Dora stirbt, von der Abend¬
sonne beleuchtet, segnet die beiden Liebenden ein, die sich übrigens mit ziemlicher
Unbefangenheit die Sache ansehen. Vorher hat sie selber den Segen von Vater
Gleim und von dem alten wahnsinnigen Onkel empfangen, und Karl August der
Große hat ihrem Gemahl eine Pension ausgesetzt, ihm einen Blüthenzweig ge¬
schenkt und dem prosaischen Gerichtsherrn den Text gelesen.

Nach allen diesen Voraussetzungen muß ich wohl über das Stück ein unbe¬
dingtes Verdammungsurtheil aussprechen. Dieses Urtheil soll aber nicht dem Dich¬
ter gelten, Es zeigt sich ein richtiges künstlerisches Gefühl in der Gruppirung der
Scenen; die Sprache, diesmal in Prosa gehalten, scheint mir, so weit ich vom


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/460>, abgerufen am 28.06.2024.