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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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trennt sind; gleich bei ihrem ersten Gespräch, wo man erwarten sollte', daß sie
sich über persönliche Angelegenheiten unterhalten werden, erzählt sie ihm, sie sei
über einen Kirchhof gegangen, und es sei ihr so vorgekommen, als reite ein ge¬
spenstischer Reiter hinter ihr, der Trab des Rosses habe ungefähr so geklungen,
wie Hurre, dürre, hopp, hopp, hopp, und es sei ihr der Vers dabei eingefallen:
"Der Mond der scheint so helle, die Todten reiten so schnelle," sogleich geräth
Bürger in tiefes Sinnen und springt dann mit dem Ausruf aus: Halt, das gibt
mir Gelegenheit zu meiner berühmten Ballade, die ich^weil eben ein interessantes
Mädchen, Namens Lenore, gestorben ist, Lenore nennen will. -- Diese Dar¬
stellung ist an sich nicht unwahr, aber ans der Buhne macht sie einen abscheulichen
Eindruck, man wird unwillkürlich zu dem Gedanken geleitet: wenn ich ein Mäd¬
chen wäre, so würde ich diesem Dichter keine Liebeserklärung machen, denn er
würde sich beeilen, meine Empfindung zu profaniren. -- Im Tasso wird gleich¬
falls angedeutet, daß der Dichter die besten seiner poetischen Einfälle den An¬
schauungen seines befreundeten Kreises verdanke, aber diese Andeutung wird nicht
weiter ausgeführt und beleidigt darum nicht. Moseuthal dagegen wird durch seine
Absicht, uns den historischen Bürger zu geben, fortwährend zu Verstößen gegen
unser Gefühl verleitet.

Der zweite Umstand, der dazu beiträgt, uns die Krankhaftigkeit in dem Wesen
Bürgers deutlicher zu machen, als die Tasso's, ist die Lage der Personen, mit
denen er in Berührung kommt. Die Gesellschaft, in der sich Tasso bewegt, ist
eine aristokratische, die zwar den selbstverschuldeten Verlust des Freundes mit
tiefem Schmerz empfinden wird, die ihn aber wenigstens mit Anstand ertragen
kann. Hier ist es aber Weib und Kind, die durch die Vernachlässigung des Va¬
ters in materielle Noth versetzt werden, und es ist nnr zu natürlich, daß die gute
Dora, nachdem sie im ersten Act ihre künftige Noth anticipirt hat, in den vier
folgenden Acten in einem ununterbrochenen Sterben liegt. Aber so natürlich es
ist, so wenig ist es poetisch; vier Acte hindurch eine Person leiden, weinen und
sterben zu sehen, das erträgt selbst der Deutsche uicht.

Es bleibt mir noch übrig, einen kurzen Blick auf das Einzelne zu werfen.
Im ersten Acte sehen wir Bürger's Freunde, die Göttinger Dichter, die von sei¬
ner Hochzeit gehört haben und ihn auf derselbe" zu besuchen beschließen. Der
Jargon dieses Kreises ist getreu wiedergegeben, aber er macht keinen ästhetischen
Eindruck, weil wir keine Verpflichtung fühlen können, uns die Entstehung dessel¬
ben literarhistorisch zu motiviren. -- Die Hochzeit wird uuter trüben Vorahnun¬
gen geschlossen, Schon die Erscheinung eines wahnsinnigen Alten, der uns wäh¬
rend des Stückes auf eine ganz unnöthige Art mit seinen tollen Einfällen lang¬
weilt, macht uns bedenklich; nicht weniger der Kranz von weißen Rosen, die
Mosenthal aus dem Freischütz gepflückt und in das Haar der unglücklichen Braut
geflochten hat. Als nun aber gar im Augenblick, wo die Glocken zum Trauungs-


trennt sind; gleich bei ihrem ersten Gespräch, wo man erwarten sollte', daß sie
sich über persönliche Angelegenheiten unterhalten werden, erzählt sie ihm, sie sei
über einen Kirchhof gegangen, und es sei ihr so vorgekommen, als reite ein ge¬
spenstischer Reiter hinter ihr, der Trab des Rosses habe ungefähr so geklungen,
wie Hurre, dürre, hopp, hopp, hopp, und es sei ihr der Vers dabei eingefallen:
„Der Mond der scheint so helle, die Todten reiten so schnelle," sogleich geräth
Bürger in tiefes Sinnen und springt dann mit dem Ausruf aus: Halt, das gibt
mir Gelegenheit zu meiner berühmten Ballade, die ich^weil eben ein interessantes
Mädchen, Namens Lenore, gestorben ist, Lenore nennen will. — Diese Dar¬
stellung ist an sich nicht unwahr, aber ans der Buhne macht sie einen abscheulichen
Eindruck, man wird unwillkürlich zu dem Gedanken geleitet: wenn ich ein Mäd¬
chen wäre, so würde ich diesem Dichter keine Liebeserklärung machen, denn er
würde sich beeilen, meine Empfindung zu profaniren. — Im Tasso wird gleich¬
falls angedeutet, daß der Dichter die besten seiner poetischen Einfälle den An¬
schauungen seines befreundeten Kreises verdanke, aber diese Andeutung wird nicht
weiter ausgeführt und beleidigt darum nicht. Moseuthal dagegen wird durch seine
Absicht, uns den historischen Bürger zu geben, fortwährend zu Verstößen gegen
unser Gefühl verleitet.

Der zweite Umstand, der dazu beiträgt, uns die Krankhaftigkeit in dem Wesen
Bürgers deutlicher zu machen, als die Tasso's, ist die Lage der Personen, mit
denen er in Berührung kommt. Die Gesellschaft, in der sich Tasso bewegt, ist
eine aristokratische, die zwar den selbstverschuldeten Verlust des Freundes mit
tiefem Schmerz empfinden wird, die ihn aber wenigstens mit Anstand ertragen
kann. Hier ist es aber Weib und Kind, die durch die Vernachlässigung des Va¬
ters in materielle Noth versetzt werden, und es ist nnr zu natürlich, daß die gute
Dora, nachdem sie im ersten Act ihre künftige Noth anticipirt hat, in den vier
folgenden Acten in einem ununterbrochenen Sterben liegt. Aber so natürlich es
ist, so wenig ist es poetisch; vier Acte hindurch eine Person leiden, weinen und
sterben zu sehen, das erträgt selbst der Deutsche uicht.

Es bleibt mir noch übrig, einen kurzen Blick auf das Einzelne zu werfen.
Im ersten Acte sehen wir Bürger's Freunde, die Göttinger Dichter, die von sei¬
ner Hochzeit gehört haben und ihn auf derselbe« zu besuchen beschließen. Der
Jargon dieses Kreises ist getreu wiedergegeben, aber er macht keinen ästhetischen
Eindruck, weil wir keine Verpflichtung fühlen können, uns die Entstehung dessel¬
ben literarhistorisch zu motiviren. — Die Hochzeit wird uuter trüben Vorahnun¬
gen geschlossen, Schon die Erscheinung eines wahnsinnigen Alten, der uns wäh¬
rend des Stückes auf eine ganz unnöthige Art mit seinen tollen Einfällen lang¬
weilt, macht uns bedenklich; nicht weniger der Kranz von weißen Rosen, die
Mosenthal aus dem Freischütz gepflückt und in das Haar der unglücklichen Braut
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/459>, abgerufen am 28.06.2024.