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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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sich ein Theil unter der Leitung Neidhart's und auf Veranlassung Balfe's
für die Dauer von vier Wochen zu der Mitwirkung in den National-
Concerten verpflichtet hatte. Die uus Berlinern längst bekannte Vollendung
dieses Chors in Allem, was das Technische des Chorgesanges betrifft, machte
auch auf das englische Publicum eine durchgreifende Wirkung; und wie die
Presse des Lobes und der Bewunderung voll war, so erkannte auch das Publicum
mit solcher Entschiedenheit die Vorzüglichkeit des Domchors an, daß der Dacapo-
Nnf -- dem in neuerer Zeit in England in der Regel nicht dnrch Wiederholung
des eben vorgetragenen, sondern durch Einlegung eiues neuen Stückes entsprochen
wird -- bei seinem jedesmaligen Auftreten stehend war. Doch was sollen Palestrina
und Lotti, ja was sollen selbst Mozart oder Mendelssohn in der Gesellschaft von
Labitzky'schen Polka's und Quadrillen, von Donizetti'schen Arien und ähnlichem
Alltagökram? Die Stimmung, in die man dnrch das Ensemble versetzt wird,
vernichtet den Sinn für das wahrhaft Edle und Große, das jene alten Meister
in Tönen allsgedrückt haben; oder, wo dieser Sinn noch erklingt, stellt sich auch
das Gefühl der Empörung ein über die sinnlose Vermischung der verschiedensten
Style, der verschiedensten Richtungen und Empfindungen des Geistes. Es fehlte
nur noch, daß man in Ballsälen während der Pansen, um die ermatteten Tänzer
nicht ganz unbeschäftigt zu lassen und um die abgestumpften Sinne dnrch den
Gegensatz zu kitzeln, Chöre aufstellte und heilige Musik aufführen ließe --
sonderlich weit scheint die heutige Welt davon nicht entfernt zu sein. So war
denn auch von einem innern Verständniß der classischen Werke, die der Domchor
hin und wieder sang, -- denn wir hörten mich heitere, weltliche Musik von ihm --
uicht die Rede. Ich hörte das sechsstimmige Crucifixus von Lotti, eine Composition,
die in einer so seltenen Vereinigung voll Klarheit und tiefem, ergreifenden Ernst
glänzt, daß man sie zu den ersten Meisterwerken der Kirchenmusik zählen kann.
Aber es fehlt ihm eine handgreifliche, in die Ohren fallende Melodie, man kann
es nicht mit halben Ohren und halb wachenden Geiste hören, ver Geist muß
wach und thätig, das Ohr muß nach allen Seiten hin gerichtet sein -- dies
ging über den Horizont der Engländer; Zöllner'sche Männerqnartette und der-
gleichen Bagatellen waren ihnen lieber. -- Ich hatte viel in meinem Leben von
der Begeisterung der Engländer für deutsche Kirchenmusik gehört, und neuer¬
dings hörte ich sogar von einem musikalisch gebildeten Deutschen, der seit mehre¬
ren Jahren in England lebt, und der außerdem voll der englischen Begabung für
Mllsik so ziemlich dieselben Eindrücke empfangen hat, die ich nach Deutschland
zurückbringe, daß die Händel'schen Oratorien in England besser, als in Deutsch¬
land ausgeführt würden, in Folge der Tradition, die sich seit Händel's Zeiten
über die Einzelheiten der Ausführung erhalten hätte. Ich gestehe indeß, daß
ich, bis ich mich mit eigenen Ohren davon überzeugt habe, die Nichtigkeit dieses
Urtheils bezweifle, die sich möglicherweise darauf beschränkt, daß die Engländer


sich ein Theil unter der Leitung Neidhart's und auf Veranlassung Balfe's
für die Dauer von vier Wochen zu der Mitwirkung in den National-
Concerten verpflichtet hatte. Die uus Berlinern längst bekannte Vollendung
dieses Chors in Allem, was das Technische des Chorgesanges betrifft, machte
auch auf das englische Publicum eine durchgreifende Wirkung; und wie die
Presse des Lobes und der Bewunderung voll war, so erkannte auch das Publicum
mit solcher Entschiedenheit die Vorzüglichkeit des Domchors an, daß der Dacapo-
Nnf — dem in neuerer Zeit in England in der Regel nicht dnrch Wiederholung
des eben vorgetragenen, sondern durch Einlegung eiues neuen Stückes entsprochen
wird — bei seinem jedesmaligen Auftreten stehend war. Doch was sollen Palestrina
und Lotti, ja was sollen selbst Mozart oder Mendelssohn in der Gesellschaft von
Labitzky'schen Polka's und Quadrillen, von Donizetti'schen Arien und ähnlichem
Alltagökram? Die Stimmung, in die man dnrch das Ensemble versetzt wird,
vernichtet den Sinn für das wahrhaft Edle und Große, das jene alten Meister
in Tönen allsgedrückt haben; oder, wo dieser Sinn noch erklingt, stellt sich auch
das Gefühl der Empörung ein über die sinnlose Vermischung der verschiedensten
Style, der verschiedensten Richtungen und Empfindungen des Geistes. Es fehlte
nur noch, daß man in Ballsälen während der Pansen, um die ermatteten Tänzer
nicht ganz unbeschäftigt zu lassen und um die abgestumpften Sinne dnrch den
Gegensatz zu kitzeln, Chöre aufstellte und heilige Musik aufführen ließe —
sonderlich weit scheint die heutige Welt davon nicht entfernt zu sein. So war
denn auch von einem innern Verständniß der classischen Werke, die der Domchor
hin und wieder sang, — denn wir hörten mich heitere, weltliche Musik von ihm —
uicht die Rede. Ich hörte das sechsstimmige Crucifixus von Lotti, eine Composition,
die in einer so seltenen Vereinigung voll Klarheit und tiefem, ergreifenden Ernst
glänzt, daß man sie zu den ersten Meisterwerken der Kirchenmusik zählen kann.
Aber es fehlt ihm eine handgreifliche, in die Ohren fallende Melodie, man kann
es nicht mit halben Ohren und halb wachenden Geiste hören, ver Geist muß
wach und thätig, das Ohr muß nach allen Seiten hin gerichtet sein — dies
ging über den Horizont der Engländer; Zöllner'sche Männerqnartette und der-
gleichen Bagatellen waren ihnen lieber. — Ich hatte viel in meinem Leben von
der Begeisterung der Engländer für deutsche Kirchenmusik gehört, und neuer¬
dings hörte ich sogar von einem musikalisch gebildeten Deutschen, der seit mehre¬
ren Jahren in England lebt, und der außerdem voll der englischen Begabung für
Mllsik so ziemlich dieselben Eindrücke empfangen hat, die ich nach Deutschland
zurückbringe, daß die Händel'schen Oratorien in England besser, als in Deutsch¬
land ausgeführt würden, in Folge der Tradition, die sich seit Händel's Zeiten
über die Einzelheiten der Ausführung erhalten hätte. Ich gestehe indeß, daß
ich, bis ich mich mit eigenen Ohren davon überzeugt habe, die Nichtigkeit dieses
Urtheils bezweifle, die sich möglicherweise darauf beschränkt, daß die Engländer


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[0044] sich ein Theil unter der Leitung Neidhart's und auf Veranlassung Balfe's für die Dauer von vier Wochen zu der Mitwirkung in den National- Concerten verpflichtet hatte. Die uus Berlinern längst bekannte Vollendung dieses Chors in Allem, was das Technische des Chorgesanges betrifft, machte auch auf das englische Publicum eine durchgreifende Wirkung; und wie die Presse des Lobes und der Bewunderung voll war, so erkannte auch das Publicum mit solcher Entschiedenheit die Vorzüglichkeit des Domchors an, daß der Dacapo- Nnf — dem in neuerer Zeit in England in der Regel nicht dnrch Wiederholung des eben vorgetragenen, sondern durch Einlegung eiues neuen Stückes entsprochen wird — bei seinem jedesmaligen Auftreten stehend war. Doch was sollen Palestrina und Lotti, ja was sollen selbst Mozart oder Mendelssohn in der Gesellschaft von Labitzky'schen Polka's und Quadrillen, von Donizetti'schen Arien und ähnlichem Alltagökram? Die Stimmung, in die man dnrch das Ensemble versetzt wird, vernichtet den Sinn für das wahrhaft Edle und Große, das jene alten Meister in Tönen allsgedrückt haben; oder, wo dieser Sinn noch erklingt, stellt sich auch das Gefühl der Empörung ein über die sinnlose Vermischung der verschiedensten Style, der verschiedensten Richtungen und Empfindungen des Geistes. Es fehlte nur noch, daß man in Ballsälen während der Pansen, um die ermatteten Tänzer nicht ganz unbeschäftigt zu lassen und um die abgestumpften Sinne dnrch den Gegensatz zu kitzeln, Chöre aufstellte und heilige Musik aufführen ließe — sonderlich weit scheint die heutige Welt davon nicht entfernt zu sein. So war denn auch von einem innern Verständniß der classischen Werke, die der Domchor hin und wieder sang, — denn wir hörten mich heitere, weltliche Musik von ihm — uicht die Rede. Ich hörte das sechsstimmige Crucifixus von Lotti, eine Composition, die in einer so seltenen Vereinigung voll Klarheit und tiefem, ergreifenden Ernst glänzt, daß man sie zu den ersten Meisterwerken der Kirchenmusik zählen kann. Aber es fehlt ihm eine handgreifliche, in die Ohren fallende Melodie, man kann es nicht mit halben Ohren und halb wachenden Geiste hören, ver Geist muß wach und thätig, das Ohr muß nach allen Seiten hin gerichtet sein — dies ging über den Horizont der Engländer; Zöllner'sche Männerqnartette und der- gleichen Bagatellen waren ihnen lieber. — Ich hatte viel in meinem Leben von der Begeisterung der Engländer für deutsche Kirchenmusik gehört, und neuer¬ dings hörte ich sogar von einem musikalisch gebildeten Deutschen, der seit mehre¬ ren Jahren in England lebt, und der außerdem voll der englischen Begabung für Mllsik so ziemlich dieselben Eindrücke empfangen hat, die ich nach Deutschland zurückbringe, daß die Händel'schen Oratorien in England besser, als in Deutsch¬ land ausgeführt würden, in Folge der Tradition, die sich seit Händel's Zeiten über die Einzelheiten der Ausführung erhalten hätte. Ich gestehe indeß, daß ich, bis ich mich mit eigenen Ohren davon überzeugt habe, die Nichtigkeit dieses Urtheils bezweifle, die sich möglicherweise darauf beschränkt, daß die Engländer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/44>, abgerufen am 20.06.2024.