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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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einzelne kleine Aeußerlichkeiten der Händel'schen Musik mehr nach Händel's An¬
weisung auffassen, womit es sich indeß sehr gut verträgt, daß sie die Händel'sche
Musik im Ganzen doch nnr äußerlich sich zu eigen gemacht haben. Die großen
Meister deutscher Kunst werden in ihrem innern Gehalt in England nicht ver¬
standen werden; Komponisten, die, wie Mozart und Haydn, neben der Tiefe des
Gemüths und Verstandes eine reiche Mitgift sinnlichen Reizes haben, mögen in
dieser Beziehung auch dort Verehrer finden; aber unsere Kücken und Zöllner
sind es, deuen der Lorbeer in England am liebsten grünt.




Mene deutsche Lyriker.
i.
Gedichte von Jeanne Marie.
(Leipzig, Thomas / 1850).

Es soll nicht für Mangel an Courtoisie gelten, wenn dies Blatt seine An.
sichten über die gegenwärtige Situation unserer Lyrik bei Besprechung eines
achtungswerthen Talentes kurz wiederholt. Wir haben seit ungefähr 100 Jahren
eine glänzende Blüthenzeit der Lyrik durchgemacht, und stehen jetzt am Ende
einer großen Reihe von Entwickelungen, mit all den Eigenthümlichkeiten, welche
jedesmal den Ausgang einer großen Kunstepoche bezeichnen. Die ungeheure
Masse von Stoffen, die künstlerisch behandelt worden sind, hat der Empfindung un¬
serer Zeitgenossen eine Fülle von poetisch zugerichteten Vorstellungen, Bildern,
Tönen und Stoffen gegeben, welche wir fast von der Muttermilch an in uus auf¬
nehmen und als Gegebenes genießen. In der Sprache haben sich die entspre¬
chenden Reihen von Gleichnissen, Wort- und Salzverbindungen eingebürgert,
und die Seelen der jetzt aufblühenden Generation werden mächtig bestimmt durch
die Masse vou Sätzen und Formeu, welche sie bei ihrer Bildung aufzunehmen
hat. Dadurch leidet die Freiheit deö Schaffens; -- es gibt fast kein Gefühl,
keine Anschanung uuserer Zeit, welche uicht bereits geistreich und bedeutend für
die lyrische Dichtkunst verwerthet worden ist, und die Menge dieser imponirenden
Schöpfungen klingt in den jüngern Dichterseelen wunderlich durcheinander. Es ist fast
unmöglich, Neues, uoch nicht Gesnngenes zu empfinden, und doch lebt der Trieb,
dem lebhaft wieder und wieder Empfundenen Geltung und eine gewisse Selbst-
ständigkeit zu gewinnen. Daher einerseits das Streben durch kühne, künstliche,
raffinirte, geschmacklose Bilder und Vergleiche zu fesseln, und eine originelle
Physiognomie zu gewinnen. Dies Streben soll uicht verachtet werden, selbst
wenn die Kritik seine Resultate tadeln muß. Es ist natürlich, es ist unvermeid-


Grenzbotcn. I. 1851. 5

einzelne kleine Aeußerlichkeiten der Händel'schen Musik mehr nach Händel's An¬
weisung auffassen, womit es sich indeß sehr gut verträgt, daß sie die Händel'sche
Musik im Ganzen doch nnr äußerlich sich zu eigen gemacht haben. Die großen
Meister deutscher Kunst werden in ihrem innern Gehalt in England nicht ver¬
standen werden; Komponisten, die, wie Mozart und Haydn, neben der Tiefe des
Gemüths und Verstandes eine reiche Mitgift sinnlichen Reizes haben, mögen in
dieser Beziehung auch dort Verehrer finden; aber unsere Kücken und Zöllner
sind es, deuen der Lorbeer in England am liebsten grünt.




Mene deutsche Lyriker.
i.
Gedichte von Jeanne Marie.
(Leipzig, Thomas / 1850).

Es soll nicht für Mangel an Courtoisie gelten, wenn dies Blatt seine An.
sichten über die gegenwärtige Situation unserer Lyrik bei Besprechung eines
achtungswerthen Talentes kurz wiederholt. Wir haben seit ungefähr 100 Jahren
eine glänzende Blüthenzeit der Lyrik durchgemacht, und stehen jetzt am Ende
einer großen Reihe von Entwickelungen, mit all den Eigenthümlichkeiten, welche
jedesmal den Ausgang einer großen Kunstepoche bezeichnen. Die ungeheure
Masse von Stoffen, die künstlerisch behandelt worden sind, hat der Empfindung un¬
serer Zeitgenossen eine Fülle von poetisch zugerichteten Vorstellungen, Bildern,
Tönen und Stoffen gegeben, welche wir fast von der Muttermilch an in uus auf¬
nehmen und als Gegebenes genießen. In der Sprache haben sich die entspre¬
chenden Reihen von Gleichnissen, Wort- und Salzverbindungen eingebürgert,
und die Seelen der jetzt aufblühenden Generation werden mächtig bestimmt durch
die Masse vou Sätzen und Formeu, welche sie bei ihrer Bildung aufzunehmen
hat. Dadurch leidet die Freiheit deö Schaffens; — es gibt fast kein Gefühl,
keine Anschanung uuserer Zeit, welche uicht bereits geistreich und bedeutend für
die lyrische Dichtkunst verwerthet worden ist, und die Menge dieser imponirenden
Schöpfungen klingt in den jüngern Dichterseelen wunderlich durcheinander. Es ist fast
unmöglich, Neues, uoch nicht Gesnngenes zu empfinden, und doch lebt der Trieb,
dem lebhaft wieder und wieder Empfundenen Geltung und eine gewisse Selbst-
ständigkeit zu gewinnen. Daher einerseits das Streben durch kühne, künstliche,
raffinirte, geschmacklose Bilder und Vergleiche zu fesseln, und eine originelle
Physiognomie zu gewinnen. Dies Streben soll uicht verachtet werden, selbst
wenn die Kritik seine Resultate tadeln muß. Es ist natürlich, es ist unvermeid-


Grenzbotcn. I. 1851. 5
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/45>, abgerufen am 20.06.2024.