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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Gewalt die wilden Träumereien ihrer Jugend plötzlich Wirklichkeit zu gewinnen
schienen, wird sie wegen dieser Theilnahme nicht verdammen. Man kann und
muß die gespenstischen Traumbilder des Socialismus hassen, welche die Ent¬
wickelung der Geschichte noch mehr dadurch hemmen, daß sie die Herzen der Ju¬
gend gegen die Idee des wirklichen Fortschritts erkälten, als durch das unmittel¬
bare Uebel, welches sie anstiften, aber man darf diesen Haß nicht auf jedes Ge¬
müth ausdehnen, das vou der Krankheit der Zeit ergriffen wird. Zuweilen,
aber allerdings nicht immer, ist es das Zeichen einer edlen und kräftigen Natur,
in der Verirrung das größte Maß zu erreichen. Was die neuere romantische
Literatur an bedeutenden Namen in sich umfaßt, Lamcirtiue, Victor Hugo,
Eugen Sue, Felix Pyat u. s. w., ist Alles in diesen Strudel hineingezogen;
Georges Sand ist die Einzige nnter ihnen, die dabei unser Interesse erregte.

Nach Besiegung der Revolution ist die alte Gesellschaft mit den alten Formen
ihrer Poesie wieder in ihre Rechte eingetreten. Die schöne Literatur hat sich
wieder vorzugsweise dem Theater zugewendet. Zuerst hat mau, wie es in solchen
Zeiten zu geschehen pflegt, Pamphlete für oder wider die Revolution aus die
Bühne gebracht, dann aber hat man sich wieder nach den Idealen umgesehen, die
den Menschen mit friedlicher Gewalt aus der Verwirrung der Zeitfragen hinaus-
führen sollten. Auch Georges Saud hat sich der herrschenden Richtung ange-
schlossen. Sie hat ihren hören^viste einen^i für die Bühne bearbeitet und ein
neues Stück: Claudie, geschrieben, über welches wir in einem der letzten Hefte
berichtet haben. Der Erfolg ist ein sehr bedeutender gewesen, und das scheint
uus beim Lesen der Stücke unglaublich, deun was doch eigentlich das Interesse
des Drama's macht, Spannung und Action, ist wenig darin vorhanden. Ich
will den vortheilhaften Einfluß, deu beide Stücke auf das französische Drama
ausüben, nicht verkennen; sie sind eigentlich ein Ausdruck für die allgemeine
Sehnsucht, aus der celtischen Phantasie, dem verschrobenen Gefühlsraffinement
und den Monstrositäten der bisherigen Romantik befreit zu werdeu und zum
Einfachen nud Natürlichen zurückzukehren.

Diese Einfachheit ist in manchen Puncten eine studirte. Was das Publicum
vorzüglich angezogen hat, ist die naive und originelle Sprache/ die im Berrichon-
Dialekt gehalten ist. Georges Sand weiß sich desselben zwar mit großer Ge¬
wandtheit und Grazie zu bedienen, aber wenn es schon im Roman zweifelhaft ist,
wie weit die Anwendung eiues Idioms zu gestatten sei, und wenn man als ober¬
sten Grundsatz aufstellen darf, daß es nur im Gegensatz zu der gebildeten Sprache,
also nur in dem Fall zu rechtfertigen ist, wenn außer deu provincialen Personen
anch Personen aus der seinen Gesellschaft auftreten, so ist das im Drama noch
viel unzweifelhafter. Wenn der Dichter Lorle und deu Wadeleswirth schwäbeln
läßt, um den Contrast gegen den Künstler und den Gelehrten aus der Residenz
schärfer hervorzuheben, oder wenn Moliere in seinem "steinernen Gast" die


Gewalt die wilden Träumereien ihrer Jugend plötzlich Wirklichkeit zu gewinnen
schienen, wird sie wegen dieser Theilnahme nicht verdammen. Man kann und
muß die gespenstischen Traumbilder des Socialismus hassen, welche die Ent¬
wickelung der Geschichte noch mehr dadurch hemmen, daß sie die Herzen der Ju¬
gend gegen die Idee des wirklichen Fortschritts erkälten, als durch das unmittel¬
bare Uebel, welches sie anstiften, aber man darf diesen Haß nicht auf jedes Ge¬
müth ausdehnen, das vou der Krankheit der Zeit ergriffen wird. Zuweilen,
aber allerdings nicht immer, ist es das Zeichen einer edlen und kräftigen Natur,
in der Verirrung das größte Maß zu erreichen. Was die neuere romantische
Literatur an bedeutenden Namen in sich umfaßt, Lamcirtiue, Victor Hugo,
Eugen Sue, Felix Pyat u. s. w., ist Alles in diesen Strudel hineingezogen;
Georges Sand ist die Einzige nnter ihnen, die dabei unser Interesse erregte.

Nach Besiegung der Revolution ist die alte Gesellschaft mit den alten Formen
ihrer Poesie wieder in ihre Rechte eingetreten. Die schöne Literatur hat sich
wieder vorzugsweise dem Theater zugewendet. Zuerst hat mau, wie es in solchen
Zeiten zu geschehen pflegt, Pamphlete für oder wider die Revolution aus die
Bühne gebracht, dann aber hat man sich wieder nach den Idealen umgesehen, die
den Menschen mit friedlicher Gewalt aus der Verwirrung der Zeitfragen hinaus-
führen sollten. Auch Georges Saud hat sich der herrschenden Richtung ange-
schlossen. Sie hat ihren hören^viste einen^i für die Bühne bearbeitet und ein
neues Stück: Claudie, geschrieben, über welches wir in einem der letzten Hefte
berichtet haben. Der Erfolg ist ein sehr bedeutender gewesen, und das scheint
uus beim Lesen der Stücke unglaublich, deun was doch eigentlich das Interesse
des Drama's macht, Spannung und Action, ist wenig darin vorhanden. Ich
will den vortheilhaften Einfluß, deu beide Stücke auf das französische Drama
ausüben, nicht verkennen; sie sind eigentlich ein Ausdruck für die allgemeine
Sehnsucht, aus der celtischen Phantasie, dem verschrobenen Gefühlsraffinement
und den Monstrositäten der bisherigen Romantik befreit zu werdeu und zum
Einfachen nud Natürlichen zurückzukehren.

Diese Einfachheit ist in manchen Puncten eine studirte. Was das Publicum
vorzüglich angezogen hat, ist die naive und originelle Sprache/ die im Berrichon-
Dialekt gehalten ist. Georges Sand weiß sich desselben zwar mit großer Ge¬
wandtheit und Grazie zu bedienen, aber wenn es schon im Roman zweifelhaft ist,
wie weit die Anwendung eiues Idioms zu gestatten sei, und wenn man als ober¬
sten Grundsatz aufstellen darf, daß es nur im Gegensatz zu der gebildeten Sprache,
also nur in dem Fall zu rechtfertigen ist, wenn außer deu provincialen Personen
anch Personen aus der seinen Gesellschaft auftreten, so ist das im Drama noch
viel unzweifelhafter. Wenn der Dichter Lorle und deu Wadeleswirth schwäbeln
läßt, um den Contrast gegen den Künstler und den Gelehrten aus der Residenz
schärfer hervorzuheben, oder wenn Moliere in seinem „steinernen Gast" die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/424>, abgerufen am 28.06.2024.