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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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ist auch in diesen Versuchen viel Reflexion; sie büßt gleichsam die Sünden ihres
frühern Strebens, das über die Natur ihres Geschlechts und der Menschheit
überhaupt hinausging; aber die Heiterkeit und die Harmonie in dieser Reaction
gibt ein sicheres Zeugniß dafür, daß die Schuld, die ebenso gut ihrem Zeit¬
alter angehört als ihr selbst, die ursprüngliche Kraft und Gesundheit ihrer Natur
nicht gebrochen hat.

Johanna gehört noch nach der einen Seite der frühern Periode an. Die
Personen ans der Gesellschaft, welche mit der idealen Natur in Berührung kom¬
men, zeigen in ihrer Physiognomie noch das alte wohlbekannte Gepräge: der
schwärmerische junge Idealist ohne Charakterfestigkeit (Wilhelm von Boussac),
der strebsame, ehrgeizige, egoistische Bourgeois aus der Voltairescheu Schule
(Leon Marsillat) und der schweigsame, tieffühlende, aufopfernde Ralph Brown
(Arthur Harley). Johaunci selbst ist ein Versuch, eine der Jungfrau von Orleans
analoge Erscheinung in jenen entlegeneren Schichten der französischen Bevölkerung
aufzusuchen, die noch zu wenig von dem Einfluß der modernen Cultur berührt
siud, um sich von den mittelalterlichen Zuständen so wesentlich zu unterscheiden,
wie die moderne Gesellschaft; es ist also ein Charakter, der eigentlich der Zeit
nicht angehört, und der daher, man erlaube mir diese beiläufige Bemerkung, wie
die idyllischen Charactere überhaupt, einer dramatischen Behandlung unfähig wäre,
weil lui Drama eine Einheit der sittlichen Grundanschauung erfordert wird; ich
wage auch nicht mit Bestimmtheit zu behaupten, ob er in allen Stücken natur¬
getreu und mit sich übereinstimmend ist, aber es ist ein wunderbarer Zauber der
Poesie über diese Gestalt verbreitet, und sie kann wesentlich dazu beitragen, uns
das Verständniß des Problems jener Jungfrau, welches sich unser Schiller gesetzt
hat, zu erleichtern.

Die beiden andern Novellen geben eine vollkommen ungetrübte harmonische
Weltanschauung, wenn auch in einem sehr engen Gesichtskreise. Sie sind als
Symptome jener allgemeinen Reaction in der Poesie anzusehen, die ich zu Anfang
dieses Jahres characterisirt habe und die sich nicht mehr zu eiuer eingebildeten,
sondern zu der wirklichen Natur zurückwendet, um die in leere Reflexionen zer¬
flossene Welt zu sich selbst zurückzuführen.

Das Schicksal wollte, daß mitten unter diesen friedlichen Beschäftigungen die
Dichterin von dem Fieber der Februarrevolution erfaßt wurde. Sie wurde in
den Kreis jener wahnsinnigen Bewegung hineingerissen, in welcher eine moderne
Barbarei alle Grundlagen der Gesellschaft und alle Bildung zu vernichten drohte; die
Partei, der sie sich angeschlossen hatte, errang für einen Augenblick den Sieg, und der
Dictator von Frankreich ließ von der Dichterin der Consnelo und der Lelia seiue
fanatischen Manifeste schreiben. Wer die Natur des Weibes bedenkt, das über¬
haupt dem augenblicklichen Impuls mehr ausgesetzt ist, als der Manu, und die
schwindelnde Gemüthsbewegung, die sie ergreifen mußte, als durch eine magische


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ist auch in diesen Versuchen viel Reflexion; sie büßt gleichsam die Sünden ihres
frühern Strebens, das über die Natur ihres Geschlechts und der Menschheit
überhaupt hinausging; aber die Heiterkeit und die Harmonie in dieser Reaction
gibt ein sicheres Zeugniß dafür, daß die Schuld, die ebenso gut ihrem Zeit¬
alter angehört als ihr selbst, die ursprüngliche Kraft und Gesundheit ihrer Natur
nicht gebrochen hat.

Johanna gehört noch nach der einen Seite der frühern Periode an. Die
Personen ans der Gesellschaft, welche mit der idealen Natur in Berührung kom¬
men, zeigen in ihrer Physiognomie noch das alte wohlbekannte Gepräge: der
schwärmerische junge Idealist ohne Charakterfestigkeit (Wilhelm von Boussac),
der strebsame, ehrgeizige, egoistische Bourgeois aus der Voltairescheu Schule
(Leon Marsillat) und der schweigsame, tieffühlende, aufopfernde Ralph Brown
(Arthur Harley). Johaunci selbst ist ein Versuch, eine der Jungfrau von Orleans
analoge Erscheinung in jenen entlegeneren Schichten der französischen Bevölkerung
aufzusuchen, die noch zu wenig von dem Einfluß der modernen Cultur berührt
siud, um sich von den mittelalterlichen Zuständen so wesentlich zu unterscheiden,
wie die moderne Gesellschaft; es ist also ein Charakter, der eigentlich der Zeit
nicht angehört, und der daher, man erlaube mir diese beiläufige Bemerkung, wie
die idyllischen Charactere überhaupt, einer dramatischen Behandlung unfähig wäre,
weil lui Drama eine Einheit der sittlichen Grundanschauung erfordert wird; ich
wage auch nicht mit Bestimmtheit zu behaupten, ob er in allen Stücken natur¬
getreu und mit sich übereinstimmend ist, aber es ist ein wunderbarer Zauber der
Poesie über diese Gestalt verbreitet, und sie kann wesentlich dazu beitragen, uns
das Verständniß des Problems jener Jungfrau, welches sich unser Schiller gesetzt
hat, zu erleichtern.

Die beiden andern Novellen geben eine vollkommen ungetrübte harmonische
Weltanschauung, wenn auch in einem sehr engen Gesichtskreise. Sie sind als
Symptome jener allgemeinen Reaction in der Poesie anzusehen, die ich zu Anfang
dieses Jahres characterisirt habe und die sich nicht mehr zu eiuer eingebildeten,
sondern zu der wirklichen Natur zurückwendet, um die in leere Reflexionen zer¬
flossene Welt zu sich selbst zurückzuführen.

Das Schicksal wollte, daß mitten unter diesen friedlichen Beschäftigungen die
Dichterin von dem Fieber der Februarrevolution erfaßt wurde. Sie wurde in
den Kreis jener wahnsinnigen Bewegung hineingerissen, in welcher eine moderne
Barbarei alle Grundlagen der Gesellschaft und alle Bildung zu vernichten drohte; die
Partei, der sie sich angeschlossen hatte, errang für einen Augenblick den Sieg, und der
Dictator von Frankreich ließ von der Dichterin der Consnelo und der Lelia seiue
fanatischen Manifeste schreiben. Wer die Natur des Weibes bedenkt, das über¬
haupt dem augenblicklichen Impuls mehr ausgesetzt ist, als der Manu, und die
schwindelnde Gemüthsbewegung, die sie ergreifen mußte, als durch eine magische


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[0423] ist auch in diesen Versuchen viel Reflexion; sie büßt gleichsam die Sünden ihres frühern Strebens, das über die Natur ihres Geschlechts und der Menschheit überhaupt hinausging; aber die Heiterkeit und die Harmonie in dieser Reaction gibt ein sicheres Zeugniß dafür, daß die Schuld, die ebenso gut ihrem Zeit¬ alter angehört als ihr selbst, die ursprüngliche Kraft und Gesundheit ihrer Natur nicht gebrochen hat. Johanna gehört noch nach der einen Seite der frühern Periode an. Die Personen ans der Gesellschaft, welche mit der idealen Natur in Berührung kom¬ men, zeigen in ihrer Physiognomie noch das alte wohlbekannte Gepräge: der schwärmerische junge Idealist ohne Charakterfestigkeit (Wilhelm von Boussac), der strebsame, ehrgeizige, egoistische Bourgeois aus der Voltairescheu Schule (Leon Marsillat) und der schweigsame, tieffühlende, aufopfernde Ralph Brown (Arthur Harley). Johaunci selbst ist ein Versuch, eine der Jungfrau von Orleans analoge Erscheinung in jenen entlegeneren Schichten der französischen Bevölkerung aufzusuchen, die noch zu wenig von dem Einfluß der modernen Cultur berührt siud, um sich von den mittelalterlichen Zuständen so wesentlich zu unterscheiden, wie die moderne Gesellschaft; es ist also ein Charakter, der eigentlich der Zeit nicht angehört, und der daher, man erlaube mir diese beiläufige Bemerkung, wie die idyllischen Charactere überhaupt, einer dramatischen Behandlung unfähig wäre, weil lui Drama eine Einheit der sittlichen Grundanschauung erfordert wird; ich wage auch nicht mit Bestimmtheit zu behaupten, ob er in allen Stücken natur¬ getreu und mit sich übereinstimmend ist, aber es ist ein wunderbarer Zauber der Poesie über diese Gestalt verbreitet, und sie kann wesentlich dazu beitragen, uns das Verständniß des Problems jener Jungfrau, welches sich unser Schiller gesetzt hat, zu erleichtern. Die beiden andern Novellen geben eine vollkommen ungetrübte harmonische Weltanschauung, wenn auch in einem sehr engen Gesichtskreise. Sie sind als Symptome jener allgemeinen Reaction in der Poesie anzusehen, die ich zu Anfang dieses Jahres characterisirt habe und die sich nicht mehr zu eiuer eingebildeten, sondern zu der wirklichen Natur zurückwendet, um die in leere Reflexionen zer¬ flossene Welt zu sich selbst zurückzuführen. Das Schicksal wollte, daß mitten unter diesen friedlichen Beschäftigungen die Dichterin von dem Fieber der Februarrevolution erfaßt wurde. Sie wurde in den Kreis jener wahnsinnigen Bewegung hineingerissen, in welcher eine moderne Barbarei alle Grundlagen der Gesellschaft und alle Bildung zu vernichten drohte; die Partei, der sie sich angeschlossen hatte, errang für einen Augenblick den Sieg, und der Dictator von Frankreich ließ von der Dichterin der Consnelo und der Lelia seiue fanatischen Manifeste schreiben. Wer die Natur des Weibes bedenkt, das über¬ haupt dem augenblicklichen Impuls mehr ausgesetzt ist, als der Manu, und die schwindelnde Gemüthsbewegung, die sie ergreifen mußte, als durch eine magische 52*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/423>, abgerufen am 28.06.2024.