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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Alle diese Fehler finden sich in den genannten Romanen, und es kommt noch
ein anderer hinzu, der dem Weibe eigen ist, nämlich eine gewisse Einseitigkeit in
der Bildung der Charaktere, die sich zwar mit sehr buntem, wechselndem Kostüm
bekleiden, an denen auch eine große Mannigfaltigkeit sittlicher Fragen versucht
wird, die aber im Wesentlichen sich immer ans die alten Typen zurückführen
lassen. -- Nach diesen allgemeinen Bemerkungen gehen wir auf das Einzelne über.

Cousuelo mit seiner Fortsetzung, der Gräfin von Rudolstadt, ist
das breiteste Werk der Dichterin. Es gehört in seinen Einzelheiten zum Glän¬
zendsten, was sie geschrieben hat. So ist die Schilderung des italienischen Sän-
gerlebenö im ersten Theil, später die Flucht Cousuelo's mit dem jungen Haydn von
einem wunderbaren Zauber der Poesie erfüllt. Auch die historischen Genrebilder,
z. B. Maria Theresia und Friedrich der Große mit ihren Umgebungen, sind zwar
sehr einseitig und, parteiisch dargestellt, verrathen aber eine seltene Kraft und
Sicherheit der Zeichnung. Daneben > enthält das Buch freilich eine Fülle von
Mysticismus nud Verschrobenheit, die zum Theil dem Umgang mit den slavischen
Phantasten, Mickiewitz und Anderen, die damals Paris überströmten, zuzuschrei¬
ben ist; eine Verschrobenheit, die zuletzt die ganze Novelle absorbirt, da sich Alles
in Freimaurerei und halbwahnsinniges Prophetenwesen auflöst. Aber anch in
dieser Verschrobenheit ist nicht allein Poesie, sondern anch eine gewisse ironische
Freiheit; es ist z. B. ein sehr sinniger Zug, den Hauptträger der neuen Religion
in einem Verrückten zu suchen und ihn zuletzt als vagabondirendeu Zigeuner
herumirren zu lassen, so wehe es auch thut.

Ich muß mich bei den andern Romanen auf flüchtige Andeutungen beschrän¬
ken. Es kommt auch nicht viel darauf an, die ziemlich unreifen communistischen,
mit dem Schimmer des neumodischen Christenthums gefärbtem Doctrinen im Ein¬
zelnen zu verfolge", mit denen sich im Müller von Angibanlt die beiden
Helden Marcelle von Blanchemont und Henri Lemvr abquälen; noch weniger die
Gewissensscrupel ihrer überreizten Sentimentalität. Das Krankhafte derselben
macht einen sehr unangenehmen Eindruck. Der Anlage nach sind sie schon in
den frühern Romanen da, und auch ihr Verhältniß zu einander, das unausgesetzte
verzückte Anbeten des bürgerlichen Schullehrers vor der schönen Aristokratin, die
der Ueberzeugung, dem Glauben und der Liebe ihren Stand aufopfert, ist nichts
Neues. Zu rühmen ist die Lebendigkeit des novellistischen Theils und die Detail¬
malerei, die ihren besten Werken an die Seite zu setzen ist. Dasselbe gilt von
der Sünde des Herrn Anton, oder, wie es im Deutschen gewöhnlich heißt,
Gilberte. Der bürgerliche junge Enthusiast, der vou der Subjectivität seiner
Träumereien zum Humanismus bekehrt werden muß; der vornehme Aristokrat,
der seinen Schmerz über die Leiden der Menschheit in zwanzigjähriger Einsamkeit
verschließt, der sich durch anhaltende Studien von der Nothwendigkeit des Com-
munismus überzeugt und seine ungeheueren Schätze dem jungen Idealisten zur


48*

Alle diese Fehler finden sich in den genannten Romanen, und es kommt noch
ein anderer hinzu, der dem Weibe eigen ist, nämlich eine gewisse Einseitigkeit in
der Bildung der Charaktere, die sich zwar mit sehr buntem, wechselndem Kostüm
bekleiden, an denen auch eine große Mannigfaltigkeit sittlicher Fragen versucht
wird, die aber im Wesentlichen sich immer ans die alten Typen zurückführen
lassen. — Nach diesen allgemeinen Bemerkungen gehen wir auf das Einzelne über.

Cousuelo mit seiner Fortsetzung, der Gräfin von Rudolstadt, ist
das breiteste Werk der Dichterin. Es gehört in seinen Einzelheiten zum Glän¬
zendsten, was sie geschrieben hat. So ist die Schilderung des italienischen Sän-
gerlebenö im ersten Theil, später die Flucht Cousuelo's mit dem jungen Haydn von
einem wunderbaren Zauber der Poesie erfüllt. Auch die historischen Genrebilder,
z. B. Maria Theresia und Friedrich der Große mit ihren Umgebungen, sind zwar
sehr einseitig und, parteiisch dargestellt, verrathen aber eine seltene Kraft und
Sicherheit der Zeichnung. Daneben > enthält das Buch freilich eine Fülle von
Mysticismus nud Verschrobenheit, die zum Theil dem Umgang mit den slavischen
Phantasten, Mickiewitz und Anderen, die damals Paris überströmten, zuzuschrei¬
ben ist; eine Verschrobenheit, die zuletzt die ganze Novelle absorbirt, da sich Alles
in Freimaurerei und halbwahnsinniges Prophetenwesen auflöst. Aber anch in
dieser Verschrobenheit ist nicht allein Poesie, sondern anch eine gewisse ironische
Freiheit; es ist z. B. ein sehr sinniger Zug, den Hauptträger der neuen Religion
in einem Verrückten zu suchen und ihn zuletzt als vagabondirendeu Zigeuner
herumirren zu lassen, so wehe es auch thut.

Ich muß mich bei den andern Romanen auf flüchtige Andeutungen beschrän¬
ken. Es kommt auch nicht viel darauf an, die ziemlich unreifen communistischen,
mit dem Schimmer des neumodischen Christenthums gefärbtem Doctrinen im Ein¬
zelnen zu verfolge», mit denen sich im Müller von Angibanlt die beiden
Helden Marcelle von Blanchemont und Henri Lemvr abquälen; noch weniger die
Gewissensscrupel ihrer überreizten Sentimentalität. Das Krankhafte derselben
macht einen sehr unangenehmen Eindruck. Der Anlage nach sind sie schon in
den frühern Romanen da, und auch ihr Verhältniß zu einander, das unausgesetzte
verzückte Anbeten des bürgerlichen Schullehrers vor der schönen Aristokratin, die
der Ueberzeugung, dem Glauben und der Liebe ihren Stand aufopfert, ist nichts
Neues. Zu rühmen ist die Lebendigkeit des novellistischen Theils und die Detail¬
malerei, die ihren besten Werken an die Seite zu setzen ist. Dasselbe gilt von
der Sünde des Herrn Anton, oder, wie es im Deutschen gewöhnlich heißt,
Gilberte. Der bürgerliche junge Enthusiast, der vou der Subjectivität seiner
Träumereien zum Humanismus bekehrt werden muß; der vornehme Aristokrat,
der seinen Schmerz über die Leiden der Menschheit in zwanzigjähriger Einsamkeit
verschließt, der sich durch anhaltende Studien von der Nothwendigkeit des Com-
munismus überzeugt und seine ungeheueren Schätze dem jungen Idealisten zur


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[0391] Alle diese Fehler finden sich in den genannten Romanen, und es kommt noch ein anderer hinzu, der dem Weibe eigen ist, nämlich eine gewisse Einseitigkeit in der Bildung der Charaktere, die sich zwar mit sehr buntem, wechselndem Kostüm bekleiden, an denen auch eine große Mannigfaltigkeit sittlicher Fragen versucht wird, die aber im Wesentlichen sich immer ans die alten Typen zurückführen lassen. — Nach diesen allgemeinen Bemerkungen gehen wir auf das Einzelne über. Cousuelo mit seiner Fortsetzung, der Gräfin von Rudolstadt, ist das breiteste Werk der Dichterin. Es gehört in seinen Einzelheiten zum Glän¬ zendsten, was sie geschrieben hat. So ist die Schilderung des italienischen Sän- gerlebenö im ersten Theil, später die Flucht Cousuelo's mit dem jungen Haydn von einem wunderbaren Zauber der Poesie erfüllt. Auch die historischen Genrebilder, z. B. Maria Theresia und Friedrich der Große mit ihren Umgebungen, sind zwar sehr einseitig und, parteiisch dargestellt, verrathen aber eine seltene Kraft und Sicherheit der Zeichnung. Daneben > enthält das Buch freilich eine Fülle von Mysticismus nud Verschrobenheit, die zum Theil dem Umgang mit den slavischen Phantasten, Mickiewitz und Anderen, die damals Paris überströmten, zuzuschrei¬ ben ist; eine Verschrobenheit, die zuletzt die ganze Novelle absorbirt, da sich Alles in Freimaurerei und halbwahnsinniges Prophetenwesen auflöst. Aber anch in dieser Verschrobenheit ist nicht allein Poesie, sondern anch eine gewisse ironische Freiheit; es ist z. B. ein sehr sinniger Zug, den Hauptträger der neuen Religion in einem Verrückten zu suchen und ihn zuletzt als vagabondirendeu Zigeuner herumirren zu lassen, so wehe es auch thut. Ich muß mich bei den andern Romanen auf flüchtige Andeutungen beschrän¬ ken. Es kommt auch nicht viel darauf an, die ziemlich unreifen communistischen, mit dem Schimmer des neumodischen Christenthums gefärbtem Doctrinen im Ein¬ zelnen zu verfolge», mit denen sich im Müller von Angibanlt die beiden Helden Marcelle von Blanchemont und Henri Lemvr abquälen; noch weniger die Gewissensscrupel ihrer überreizten Sentimentalität. Das Krankhafte derselben macht einen sehr unangenehmen Eindruck. Der Anlage nach sind sie schon in den frühern Romanen da, und auch ihr Verhältniß zu einander, das unausgesetzte verzückte Anbeten des bürgerlichen Schullehrers vor der schönen Aristokratin, die der Ueberzeugung, dem Glauben und der Liebe ihren Stand aufopfert, ist nichts Neues. Zu rühmen ist die Lebendigkeit des novellistischen Theils und die Detail¬ malerei, die ihren besten Werken an die Seite zu setzen ist. Dasselbe gilt von der Sünde des Herrn Anton, oder, wie es im Deutschen gewöhnlich heißt, Gilberte. Der bürgerliche junge Enthusiast, der vou der Subjectivität seiner Träumereien zum Humanismus bekehrt werden muß; der vornehme Aristokrat, der seinen Schmerz über die Leiden der Menschheit in zwanzigjähriger Einsamkeit verschließt, der sich durch anhaltende Studien von der Nothwendigkeit des Com- munismus überzeugt und seine ungeheueren Schätze dem jungen Idealisten zur 48*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/391>, abgerufen am 28.06.2024.