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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Anschauung übertrug, so ist es sehr begreiflich, daß diese Versuche, das ideale
Volk plastisch darzustellen, zuletzt zu dem reinen Idyll führten.

Ein zweites Moment ist der glühende Haß gegen den von der Gesellschaft
gebilligten Egoismus, oder, wie Louis Blane es getauft hat, gegen das System
des Individualismus, dessen Macht durch die Wiederaufnahme der ursprüngli¬
chen christlichen Ideen, durch das Evangelium der allgemeinen Brüderlichkeit ge¬
brochen werden soll. Dieser Haß, der vorzugsweise den Bürgerstand trifft, weil
in ihm die Idee des Erwerbes, der Concurrenz oder, wie die Socialisten es
nennen, des Krieges Aller gegen Alle, weit schärfer hervortritt, als bei dem
genießenden Aristokraten oder bei dem darbenden Proletarier, ist bei Georges
Sand zu einer Art Fanatismus geworden. Schon in den frühern Werken fin¬
den sich fortwährend Spuren von diesem Fanatismus, in deu letzt genannten
drei Romanen erreicht der Haß aber die Gewalt eines Fiebers.*) Die scanda-
lösen Processe, welche damals auf eine wahrhaft erschreckende Weise die faule
Unsittlichkeit in die Mitte der gesteigerten Civilisation enthüllten, und die eine
der wesentlichsten Ursachen der Februarrevolution waren, gaben diesem Haß
Inhalt und Gestalt. Die Dichterin konnte um so rücksichtsloser in demselben
sein, da ihr jener weitere Blick fehlte, der in den Uebeln der Gesellschaft,
d. h. in der Bedingtheit derselben, die nothwendige Form aller Existenz über¬
haupt begreift.

Ein drittes Moment des neuen Glaubens ist die Unklarheit und der Mysti¬
cismus desselben. Von den modernen Socialisten haben es nur wenige versucht,
ihre Probleme durch Verstand und Wissenschaft zu verfolgen; eigentlich nur
Proudhon; die meisten erledigten sie dnrch die Allmacht des Gefühls und der
Phantasie. In Romanen geht das noch eher, als in rein rhetorischen Schriften,
und wenn man das unklare Bild eines vollkommenen Zustandes der Menschen
im Herzen trägt, von seiner Berechtigung innerlich durchdrungen ist, und doch nicht
die Kraft fühlt, ihm Gestalt und Leben zu geben, so ist jene Ueberreizung der
Phantasie nur zu begreiflich, die zuletzt einen überirdischen Mechanismus, eine
freimaurerische Symbolik oder ein krankhaftes Traumleben an Stelle der realen
Auflösung ihrer Probleme setzt.



* Ich führe von diesem Haß nur ein Beispiel an, die Schilderung des reich gewor-
denen Bauern, die als Regel gelten soll. "Jede Idee von Aufopferung und Menschlich¬
keit, jeder religiöse Begriff ist unverträglich mit dieser Umwandlung, welche der Wohlstand
in ihrem physischen und moralischen Wesen hervorbringt. Sie werden so fett, daß sie zuletzt
vom Schlage gerührt werden oder in Blödsinn versallen. Ihr Talent für das Erwerben und
Erhalten, welches im Anfang sehr entwickelt ist, erlischt gegen die Mitte ihrer Laufbahn,
und nachdem sie mit einer wunderbaren Schnelligkeit und Geschicklichkeit ihr Glück gemacht
haben, verfallen sie frühzeitig in Apathie, Unordnung und Unfähigkeit; von keiner socialen
Idee, von keinem Wunsch des Fortschritts ist bei ihnen die Rede, die Verdauung ist das
Geschäft ihres LevenS u. s. w."

Anschauung übertrug, so ist es sehr begreiflich, daß diese Versuche, das ideale
Volk plastisch darzustellen, zuletzt zu dem reinen Idyll führten.

Ein zweites Moment ist der glühende Haß gegen den von der Gesellschaft
gebilligten Egoismus, oder, wie Louis Blane es getauft hat, gegen das System
des Individualismus, dessen Macht durch die Wiederaufnahme der ursprüngli¬
chen christlichen Ideen, durch das Evangelium der allgemeinen Brüderlichkeit ge¬
brochen werden soll. Dieser Haß, der vorzugsweise den Bürgerstand trifft, weil
in ihm die Idee des Erwerbes, der Concurrenz oder, wie die Socialisten es
nennen, des Krieges Aller gegen Alle, weit schärfer hervortritt, als bei dem
genießenden Aristokraten oder bei dem darbenden Proletarier, ist bei Georges
Sand zu einer Art Fanatismus geworden. Schon in den frühern Werken fin¬
den sich fortwährend Spuren von diesem Fanatismus, in deu letzt genannten
drei Romanen erreicht der Haß aber die Gewalt eines Fiebers.*) Die scanda-
lösen Processe, welche damals auf eine wahrhaft erschreckende Weise die faule
Unsittlichkeit in die Mitte der gesteigerten Civilisation enthüllten, und die eine
der wesentlichsten Ursachen der Februarrevolution waren, gaben diesem Haß
Inhalt und Gestalt. Die Dichterin konnte um so rücksichtsloser in demselben
sein, da ihr jener weitere Blick fehlte, der in den Uebeln der Gesellschaft,
d. h. in der Bedingtheit derselben, die nothwendige Form aller Existenz über¬
haupt begreift.

Ein drittes Moment des neuen Glaubens ist die Unklarheit und der Mysti¬
cismus desselben. Von den modernen Socialisten haben es nur wenige versucht,
ihre Probleme durch Verstand und Wissenschaft zu verfolgen; eigentlich nur
Proudhon; die meisten erledigten sie dnrch die Allmacht des Gefühls und der
Phantasie. In Romanen geht das noch eher, als in rein rhetorischen Schriften,
und wenn man das unklare Bild eines vollkommenen Zustandes der Menschen
im Herzen trägt, von seiner Berechtigung innerlich durchdrungen ist, und doch nicht
die Kraft fühlt, ihm Gestalt und Leben zu geben, so ist jene Ueberreizung der
Phantasie nur zu begreiflich, die zuletzt einen überirdischen Mechanismus, eine
freimaurerische Symbolik oder ein krankhaftes Traumleben an Stelle der realen
Auflösung ihrer Probleme setzt.



* Ich führe von diesem Haß nur ein Beispiel an, die Schilderung des reich gewor-
denen Bauern, die als Regel gelten soll. „Jede Idee von Aufopferung und Menschlich¬
keit, jeder religiöse Begriff ist unverträglich mit dieser Umwandlung, welche der Wohlstand
in ihrem physischen und moralischen Wesen hervorbringt. Sie werden so fett, daß sie zuletzt
vom Schlage gerührt werden oder in Blödsinn versallen. Ihr Talent für das Erwerben und
Erhalten, welches im Anfang sehr entwickelt ist, erlischt gegen die Mitte ihrer Laufbahn,
und nachdem sie mit einer wunderbaren Schnelligkeit und Geschicklichkeit ihr Glück gemacht
haben, verfallen sie frühzeitig in Apathie, Unordnung und Unfähigkeit; von keiner socialen
Idee, von keinem Wunsch des Fortschritts ist bei ihnen die Rede, die Verdauung ist das
Geschäft ihres LevenS u. s. w."
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/390>, abgerufen am 28.06.2024.