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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Stiftung eines Phalanstere hinterläßt; der Typus des Volks, der einfache Zim¬
mermann, der aus der Vogelperspective seiner reinen Seele die verwickelten Ver¬
hältnisse dieser Welt überblickt; endlich der Industrielle, der durch schwere Erfahrun¬
gen die Nichtigkeit seines egoistischen Systems erkennen muß. Diese principiellen
Gestalten, durch eine interessante und rührende Geschichte in Bewegung gesetzt,
machen den Inhalt des Romans aus.

Es bleibt mir nur uoch übrig, einen Blick auf die neueste Thätigkeit Geor¬
I. S. ges Sand's zu werfen.




Die SLccardi'schen Gesetze.

Ihr Korrespondent aus London hat in Beziehung auf den Conflict, welcher
zwischen dem englischen Ministerium und der katholischen Geistlichkeit ausgebro-
chen ist, gegen das erste nach meiner Ansicht ein zu hartes Urtheil gefällt. Wir
Deutsche sind daran gewöhnt, daß unsere Staatsmänner in der unerreichbaren
Höhe ihres diplomatischen Olymp hoch über den Parteien in den Wolken
schweben; wir können uns einen Staatsmann kaum anders deuten, als in der
Form einer färben- und inhaltlosen Abstraction. Bei den Engländern ist das
anders. Lord Russell ist nicht blos ein abstracter Diplomat, sondern der Führer
einer politischen Partei, der ihre Gesinnungen, ihre Sympathien und Antipathien
in eben dem Grade in sich trägt, als der Chorus des Volks, der ihm Beifall
zujauchzt oder ihn verdammt. Er ist Protestant, nicht mehr und nicht minder
als der Bürgersmann, den er im Parlament vertritt, und er ist Engländer ge¬
nug, um offen hcrauszusageu, was er denkt und empfindet, auch wenn es die
Herzen rechtgläubiger Katholiken schwer verletzt. In Preußen, einem christlichen
Staat, der nicht protestantisch ist, sondern protestantisch und katholisch zugleich,
geht das freilich nicht an; durch eine zu warme Anhänglichkeit an die eine Staats¬
kirche würde man die andere betrüben, in England dagegen ist der Staat zwar
im Stande, allen Religionen die gleiche Duldung zu gewähren, allen ihren Be¬
kennen: die gleichen bürgerlichen Rechte einzuräumen, aber er bleibt darum nicht
minder protestantisch, mit einem sehr energischen sittlich-religiösen Bewußtsein,
welches im Princip nicht im mindesten tolerant ist.

Ein anderer Punkt, der bei dieser Frage in Betracht kommt, ist die große
Bedeutung, welche das kühne Verfahren der römischen Kirche für einen Staat
haben muß, der seit drei Jahrhunderten an eine ähnliche Usurpation nicht ge¬
wöhnt ist. Bei unserer philosophischen Nonchalance pflegen wir unsere Stärke
gern in der Nichtachtung unseres Gegners zu suchen. Wenn Einer oder der
Andere unter uns nicht mehr an die Transsubstantiation, nicht mehr an die Un-


Stiftung eines Phalanstere hinterläßt; der Typus des Volks, der einfache Zim¬
mermann, der aus der Vogelperspective seiner reinen Seele die verwickelten Ver¬
hältnisse dieser Welt überblickt; endlich der Industrielle, der durch schwere Erfahrun¬
gen die Nichtigkeit seines egoistischen Systems erkennen muß. Diese principiellen
Gestalten, durch eine interessante und rührende Geschichte in Bewegung gesetzt,
machen den Inhalt des Romans aus.

Es bleibt mir nur uoch übrig, einen Blick auf die neueste Thätigkeit Geor¬
I. S. ges Sand's zu werfen.




Die SLccardi'schen Gesetze.

Ihr Korrespondent aus London hat in Beziehung auf den Conflict, welcher
zwischen dem englischen Ministerium und der katholischen Geistlichkeit ausgebro-
chen ist, gegen das erste nach meiner Ansicht ein zu hartes Urtheil gefällt. Wir
Deutsche sind daran gewöhnt, daß unsere Staatsmänner in der unerreichbaren
Höhe ihres diplomatischen Olymp hoch über den Parteien in den Wolken
schweben; wir können uns einen Staatsmann kaum anders deuten, als in der
Form einer färben- und inhaltlosen Abstraction. Bei den Engländern ist das
anders. Lord Russell ist nicht blos ein abstracter Diplomat, sondern der Führer
einer politischen Partei, der ihre Gesinnungen, ihre Sympathien und Antipathien
in eben dem Grade in sich trägt, als der Chorus des Volks, der ihm Beifall
zujauchzt oder ihn verdammt. Er ist Protestant, nicht mehr und nicht minder
als der Bürgersmann, den er im Parlament vertritt, und er ist Engländer ge¬
nug, um offen hcrauszusageu, was er denkt und empfindet, auch wenn es die
Herzen rechtgläubiger Katholiken schwer verletzt. In Preußen, einem christlichen
Staat, der nicht protestantisch ist, sondern protestantisch und katholisch zugleich,
geht das freilich nicht an; durch eine zu warme Anhänglichkeit an die eine Staats¬
kirche würde man die andere betrüben, in England dagegen ist der Staat zwar
im Stande, allen Religionen die gleiche Duldung zu gewähren, allen ihren Be¬
kennen: die gleichen bürgerlichen Rechte einzuräumen, aber er bleibt darum nicht
minder protestantisch, mit einem sehr energischen sittlich-religiösen Bewußtsein,
welches im Princip nicht im mindesten tolerant ist.

Ein anderer Punkt, der bei dieser Frage in Betracht kommt, ist die große
Bedeutung, welche das kühne Verfahren der römischen Kirche für einen Staat
haben muß, der seit drei Jahrhunderten an eine ähnliche Usurpation nicht ge¬
wöhnt ist. Bei unserer philosophischen Nonchalance pflegen wir unsere Stärke
gern in der Nichtachtung unseres Gegners zu suchen. Wenn Einer oder der
Andere unter uns nicht mehr an die Transsubstantiation, nicht mehr an die Un-


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[0392] Stiftung eines Phalanstere hinterläßt; der Typus des Volks, der einfache Zim¬ mermann, der aus der Vogelperspective seiner reinen Seele die verwickelten Ver¬ hältnisse dieser Welt überblickt; endlich der Industrielle, der durch schwere Erfahrun¬ gen die Nichtigkeit seines egoistischen Systems erkennen muß. Diese principiellen Gestalten, durch eine interessante und rührende Geschichte in Bewegung gesetzt, machen den Inhalt des Romans aus. Es bleibt mir nur uoch übrig, einen Blick auf die neueste Thätigkeit Geor¬ I. S. ges Sand's zu werfen. Die SLccardi'schen Gesetze. Ihr Korrespondent aus London hat in Beziehung auf den Conflict, welcher zwischen dem englischen Ministerium und der katholischen Geistlichkeit ausgebro- chen ist, gegen das erste nach meiner Ansicht ein zu hartes Urtheil gefällt. Wir Deutsche sind daran gewöhnt, daß unsere Staatsmänner in der unerreichbaren Höhe ihres diplomatischen Olymp hoch über den Parteien in den Wolken schweben; wir können uns einen Staatsmann kaum anders deuten, als in der Form einer färben- und inhaltlosen Abstraction. Bei den Engländern ist das anders. Lord Russell ist nicht blos ein abstracter Diplomat, sondern der Führer einer politischen Partei, der ihre Gesinnungen, ihre Sympathien und Antipathien in eben dem Grade in sich trägt, als der Chorus des Volks, der ihm Beifall zujauchzt oder ihn verdammt. Er ist Protestant, nicht mehr und nicht minder als der Bürgersmann, den er im Parlament vertritt, und er ist Engländer ge¬ nug, um offen hcrauszusageu, was er denkt und empfindet, auch wenn es die Herzen rechtgläubiger Katholiken schwer verletzt. In Preußen, einem christlichen Staat, der nicht protestantisch ist, sondern protestantisch und katholisch zugleich, geht das freilich nicht an; durch eine zu warme Anhänglichkeit an die eine Staats¬ kirche würde man die andere betrüben, in England dagegen ist der Staat zwar im Stande, allen Religionen die gleiche Duldung zu gewähren, allen ihren Be¬ kennen: die gleichen bürgerlichen Rechte einzuräumen, aber er bleibt darum nicht minder protestantisch, mit einem sehr energischen sittlich-religiösen Bewußtsein, welches im Princip nicht im mindesten tolerant ist. Ein anderer Punkt, der bei dieser Frage in Betracht kommt, ist die große Bedeutung, welche das kühne Verfahren der römischen Kirche für einen Staat haben muß, der seit drei Jahrhunderten an eine ähnliche Usurpation nicht ge¬ wöhnt ist. Bei unserer philosophischen Nonchalance pflegen wir unsere Stärke gern in der Nichtachtung unseres Gegners zu suchen. Wenn Einer oder der Andere unter uns nicht mehr an die Transsubstantiation, nicht mehr an die Un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/392>, abgerufen am 28.06.2024.