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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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welche der revolutionären Richtung huldigten, von Michelet, Quiuet, Lamartine,
Buchez und Roux, über die ich bei eiuer frühem Gelegenheit berichtet habe,
ebenso Louis Blaue und die eigentlichen Propheten, z. B. Lamennais in seineu
"Worten eines Gläubigen" und in seinem "Buch des Volks," haben mit einer
mythenbildenden Kunst, die mehr dem Poeten als dem Historiker angehört,
den Collectivbegriff des Volks, bei dein man sich sonst nichts Anderes zu denken
Pflegte, als die Masse der persönlich nicht hervorragenden Individuen, zu einem
Wesen umgedichtet, vor welchem sich jede bedeutende Persönlichkeit beugen soll.
Neun man ihnen glaubt, so wären die Führer sämmtlicher Parteien, so wie die
Angehörigen der höhern Stände, in denen doch immer mehr Persönlichkeit ist,
als in dem Chor des nnselbstständigen Haufens, theils schlechte, theils schwache
Meuschen; das Volk dagegen ist, wo es auftritt, immer groß, stark und heilig.
Dieses souveräne Volk der Barrikaden in seiue Einzelheiten zu analysiren, wo
die Illusion sich sehr bald aufheben würde, fällt deu trunkenen Sehern uicht ein.
Georges Saud verfällt zwar in denselben Irrthum, aber ihre poetische Natur
bewahrt sie vor den zu argen Auswüchsen desselben. Ihr ideales Volk ist nicht
in der Masse, sondern in einzelnen hervorragenden Persönlichkeiten, die aus dem
Volke hervorgegangen siud, und deu einfachen Verstand desselben uoch durch
Reflexion nicht verwirrt haben, deren hoffnungsreiches und gläubiges Gemüth
sie aber nicht nur über ihre Standesgenossen, souderu über ihr ganzes Zeit¬
alter emporhebt. Zuerst siud es die einfachen, arbeitsamen Naturen, die das
Gute wirken ohne jenen blendenden Schimmer des Idealismus, der die Ver-
bildung unserer Zeit bezeichnet; oder die unbefangenen Gemüther, vou deuen.
das Wort des Dichters gilt: "Was kein Verstand der Verständigen sieht, das
übet in Einfalt ein kindlich Gemüth." Erst später kommt in diese Figuren etwas
Typisches und Symbolisches, und während sie früher durch ihren einfachen Ver¬
stand die Träumereien des unbedingten Idealismus widerlegten, macht sich später
in ihnen der Idealismus gegen die hartherzige Einseitigkeit des Verstandes gel¬
tend. Solche Figuren sind Patience, Teverino, Hans Jappeloup, der Müller von
Angibault und ähnliche. Zuweilen siud es auch hochstehende Aristokraten, die,
weil sie dem Zeitalter an Bildung unendlich überlegen sind, zur einfachen Natur
und zum Volk zurückkehren, so z. B. schon der Marquis vou Carabas in dem
ersten Roman Georges Sand's, so später der Herr von Boisgnilbault. Auf die
traurige Idee Eugen Sue's, das Volk durch einen Kammerdiener vertreten zu
lassen, der die Rolle der Vorsehung spielt, ist Georges Saud nie gekommen;
sie hat sich überhaupt von jenem Jesuitismus der Tugend, der den Teufel mit
dem Teufel austreibt, der das Gute in der Welt dnrch subjective Gewaltthat
herstellen will, stets frei gehalten. Da ihre poetische Natur überhaupt immer
deu Weg nahm, daß sie vom Abstracten zum Concreten überging, daß sie in die
unbestimmten Anlagen der ursprünglichen Ideale das Fleisch und Blut der realen


Grenzboten. I. 1851. 48

welche der revolutionären Richtung huldigten, von Michelet, Quiuet, Lamartine,
Buchez und Roux, über die ich bei eiuer frühem Gelegenheit berichtet habe,
ebenso Louis Blaue und die eigentlichen Propheten, z. B. Lamennais in seineu
„Worten eines Gläubigen" und in seinem „Buch des Volks," haben mit einer
mythenbildenden Kunst, die mehr dem Poeten als dem Historiker angehört,
den Collectivbegriff des Volks, bei dein man sich sonst nichts Anderes zu denken
Pflegte, als die Masse der persönlich nicht hervorragenden Individuen, zu einem
Wesen umgedichtet, vor welchem sich jede bedeutende Persönlichkeit beugen soll.
Neun man ihnen glaubt, so wären die Führer sämmtlicher Parteien, so wie die
Angehörigen der höhern Stände, in denen doch immer mehr Persönlichkeit ist,
als in dem Chor des nnselbstständigen Haufens, theils schlechte, theils schwache
Meuschen; das Volk dagegen ist, wo es auftritt, immer groß, stark und heilig.
Dieses souveräne Volk der Barrikaden in seiue Einzelheiten zu analysiren, wo
die Illusion sich sehr bald aufheben würde, fällt deu trunkenen Sehern uicht ein.
Georges Saud verfällt zwar in denselben Irrthum, aber ihre poetische Natur
bewahrt sie vor den zu argen Auswüchsen desselben. Ihr ideales Volk ist nicht
in der Masse, sondern in einzelnen hervorragenden Persönlichkeiten, die aus dem
Volke hervorgegangen siud, und deu einfachen Verstand desselben uoch durch
Reflexion nicht verwirrt haben, deren hoffnungsreiches und gläubiges Gemüth
sie aber nicht nur über ihre Standesgenossen, souderu über ihr ganzes Zeit¬
alter emporhebt. Zuerst siud es die einfachen, arbeitsamen Naturen, die das
Gute wirken ohne jenen blendenden Schimmer des Idealismus, der die Ver-
bildung unserer Zeit bezeichnet; oder die unbefangenen Gemüther, vou deuen.
das Wort des Dichters gilt: „Was kein Verstand der Verständigen sieht, das
übet in Einfalt ein kindlich Gemüth." Erst später kommt in diese Figuren etwas
Typisches und Symbolisches, und während sie früher durch ihren einfachen Ver¬
stand die Träumereien des unbedingten Idealismus widerlegten, macht sich später
in ihnen der Idealismus gegen die hartherzige Einseitigkeit des Verstandes gel¬
tend. Solche Figuren sind Patience, Teverino, Hans Jappeloup, der Müller von
Angibault und ähnliche. Zuweilen siud es auch hochstehende Aristokraten, die,
weil sie dem Zeitalter an Bildung unendlich überlegen sind, zur einfachen Natur
und zum Volk zurückkehren, so z. B. schon der Marquis vou Carabas in dem
ersten Roman Georges Sand's, so später der Herr von Boisgnilbault. Auf die
traurige Idee Eugen Sue's, das Volk durch einen Kammerdiener vertreten zu
lassen, der die Rolle der Vorsehung spielt, ist Georges Saud nie gekommen;
sie hat sich überhaupt von jenem Jesuitismus der Tugend, der den Teufel mit
dem Teufel austreibt, der das Gute in der Welt dnrch subjective Gewaltthat
herstellen will, stets frei gehalten. Da ihre poetische Natur überhaupt immer
deu Weg nahm, daß sie vom Abstracten zum Concreten überging, daß sie in die
unbestimmten Anlagen der ursprünglichen Ideale das Fleisch und Blut der realen


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[0389] welche der revolutionären Richtung huldigten, von Michelet, Quiuet, Lamartine, Buchez und Roux, über die ich bei eiuer frühem Gelegenheit berichtet habe, ebenso Louis Blaue und die eigentlichen Propheten, z. B. Lamennais in seineu „Worten eines Gläubigen" und in seinem „Buch des Volks," haben mit einer mythenbildenden Kunst, die mehr dem Poeten als dem Historiker angehört, den Collectivbegriff des Volks, bei dein man sich sonst nichts Anderes zu denken Pflegte, als die Masse der persönlich nicht hervorragenden Individuen, zu einem Wesen umgedichtet, vor welchem sich jede bedeutende Persönlichkeit beugen soll. Neun man ihnen glaubt, so wären die Führer sämmtlicher Parteien, so wie die Angehörigen der höhern Stände, in denen doch immer mehr Persönlichkeit ist, als in dem Chor des nnselbstständigen Haufens, theils schlechte, theils schwache Meuschen; das Volk dagegen ist, wo es auftritt, immer groß, stark und heilig. Dieses souveräne Volk der Barrikaden in seiue Einzelheiten zu analysiren, wo die Illusion sich sehr bald aufheben würde, fällt deu trunkenen Sehern uicht ein. Georges Saud verfällt zwar in denselben Irrthum, aber ihre poetische Natur bewahrt sie vor den zu argen Auswüchsen desselben. Ihr ideales Volk ist nicht in der Masse, sondern in einzelnen hervorragenden Persönlichkeiten, die aus dem Volke hervorgegangen siud, und deu einfachen Verstand desselben uoch durch Reflexion nicht verwirrt haben, deren hoffnungsreiches und gläubiges Gemüth sie aber nicht nur über ihre Standesgenossen, souderu über ihr ganzes Zeit¬ alter emporhebt. Zuerst siud es die einfachen, arbeitsamen Naturen, die das Gute wirken ohne jenen blendenden Schimmer des Idealismus, der die Ver- bildung unserer Zeit bezeichnet; oder die unbefangenen Gemüther, vou deuen. das Wort des Dichters gilt: „Was kein Verstand der Verständigen sieht, das übet in Einfalt ein kindlich Gemüth." Erst später kommt in diese Figuren etwas Typisches und Symbolisches, und während sie früher durch ihren einfachen Ver¬ stand die Träumereien des unbedingten Idealismus widerlegten, macht sich später in ihnen der Idealismus gegen die hartherzige Einseitigkeit des Verstandes gel¬ tend. Solche Figuren sind Patience, Teverino, Hans Jappeloup, der Müller von Angibault und ähnliche. Zuweilen siud es auch hochstehende Aristokraten, die, weil sie dem Zeitalter an Bildung unendlich überlegen sind, zur einfachen Natur und zum Volk zurückkehren, so z. B. schon der Marquis vou Carabas in dem ersten Roman Georges Sand's, so später der Herr von Boisgnilbault. Auf die traurige Idee Eugen Sue's, das Volk durch einen Kammerdiener vertreten zu lassen, der die Rolle der Vorsehung spielt, ist Georges Saud nie gekommen; sie hat sich überhaupt von jenem Jesuitismus der Tugend, der den Teufel mit dem Teufel austreibt, der das Gute in der Welt dnrch subjective Gewaltthat herstellen will, stets frei gehalten. Da ihre poetische Natur überhaupt immer deu Weg nahm, daß sie vom Abstracten zum Concreten überging, daß sie in die unbestimmten Anlagen der ursprünglichen Ideale das Fleisch und Blut der realen Grenzboten. I. 1851. 48

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/389>, abgerufen am 24.07.2024.