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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Deutschland sind wir schon längst ans demselben Wege; aber bemerkenswert!) ist
es doch, daß anch in England dieselbe Richtung sich geltend macht.

England hat zuweilen tüchtige Virtuosen nach dem Continent gesandt. Vie¬
len ist wohl noch Clara Novell" in Erinnerung, die eine der schönsten Stimmen
besaß, die wir in den letzten Decennien gehört haben. Erscheinungen dieser
Art sind indeß vereinzelt. Zwar las ich kürzlich in einer englischen Recension,
daß die englischen Stimmen die besten von der Welt seien; meine Erfahrung hat
dies indeß so wenig bestätigt, daß ich annehmen muß, jener englische Kritiker habe
entweder nie in seinem Leben italienische Stimmen gehört, oder sein englischer
Patriotismus überschreite die Grenzen, die im Interesse der Wahrheit rathsam sind.
Mir ward das Glück, einige berühmte englische Stimmen kennen zu lernen. Der
Steiukohlendamps und die robuste Lebensweise übt ohne Frage einen zerstörenden
Einfluß ans den Stimmorganismus. Es fehlt entweder die Klarheit, oder es
fehlt die Milde und Lieblichkeit. Auch ist die Sprache hinderlich. Sowohl die
Vocale als die Consonanten sind zu unbestimmt; die Ausbildung der Stimme
selbst, nicht blos des Vertrags, hängt von der Bildung klarer und deutlicher
Laute ab, und dieser Mangel ist, wie ich glaube, in der englischen Sprache gar
nicht zu beseitigen. -- Ich hörte englischen Chorgesang; die Art der Ausführung
war ebenso ungefügig, wie die Stimmen der Chorsänger. Sodann hörte ich
einen englischen Tenor, der in diesem Augenblick das Entzücken und der Stolz
seines Vaterlandes ist, Mr. Sims Meeves. Seine Stimme gehört fast zu
den großen Stimmen; denn die mächtigen Räume des Theaters der Königin
weiß er auch bei starker Orchesterbegleitung vortrefflich zu füllen, der Umfang ist
nicht bedeutend, wenigstens braucht er schon früh das Falsett, der Klang hat
etwas Hartes, Rauhes. Das Interessante an diesem Sänger ist die Art des
Vortrags. Was Stärke und Schwäche des Tons betrifft, so bewegt er sich nur
in Extremen; er haucht entweder unhörbar, oder er forcirt seine Stimme a.uf
unerträgliche Weise. Ich hörte von ihm die Adelaide. Hier erging er sich in der
ungebundensten Freiheit des Genius, er war uur Gefühl und Innigkeit; alle
äußern Formen, in die der Componist dnrch Tactstriche und durch das ange¬
gebene Zeitmaß deu innern Gehalt einzudämmen für gut befunden hatte, sie
waren für ihn bis auf die letzte Spur verschwunden. Dem sehnsüchtigster Adagio
jagte das wildeste Presto nach, und unmittelbar darauf wieder ein Adagio --
er schien ein'Abbild im Kleinen von dem Typus geben zu wollen, den die
National-Concerte im Ganzen hatten. Von Sims Meeves wurde mir gesagt,
daß er der eigentliche Vertreter des englischen Geschmacks sei. -- Einen viel bes¬
sern Eindruck machte mir eine englische Sängerin, die sich, wenn ich nicht irre,
an eiuen Spanier verheirathet hatte, Madame Biscaccianti. Ihre Stimme
war klar und angenehm, und ihre Schule zwar nach den Proben, die ich von
ihr gehört habe, nicht von classischer Gediegenheit, aber doch von den rohesten


Deutschland sind wir schon längst ans demselben Wege; aber bemerkenswert!) ist
es doch, daß anch in England dieselbe Richtung sich geltend macht.

England hat zuweilen tüchtige Virtuosen nach dem Continent gesandt. Vie¬
len ist wohl noch Clara Novell» in Erinnerung, die eine der schönsten Stimmen
besaß, die wir in den letzten Decennien gehört haben. Erscheinungen dieser
Art sind indeß vereinzelt. Zwar las ich kürzlich in einer englischen Recension,
daß die englischen Stimmen die besten von der Welt seien; meine Erfahrung hat
dies indeß so wenig bestätigt, daß ich annehmen muß, jener englische Kritiker habe
entweder nie in seinem Leben italienische Stimmen gehört, oder sein englischer
Patriotismus überschreite die Grenzen, die im Interesse der Wahrheit rathsam sind.
Mir ward das Glück, einige berühmte englische Stimmen kennen zu lernen. Der
Steiukohlendamps und die robuste Lebensweise übt ohne Frage einen zerstörenden
Einfluß ans den Stimmorganismus. Es fehlt entweder die Klarheit, oder es
fehlt die Milde und Lieblichkeit. Auch ist die Sprache hinderlich. Sowohl die
Vocale als die Consonanten sind zu unbestimmt; die Ausbildung der Stimme
selbst, nicht blos des Vertrags, hängt von der Bildung klarer und deutlicher
Laute ab, und dieser Mangel ist, wie ich glaube, in der englischen Sprache gar
nicht zu beseitigen. — Ich hörte englischen Chorgesang; die Art der Ausführung
war ebenso ungefügig, wie die Stimmen der Chorsänger. Sodann hörte ich
einen englischen Tenor, der in diesem Augenblick das Entzücken und der Stolz
seines Vaterlandes ist, Mr. Sims Meeves. Seine Stimme gehört fast zu
den großen Stimmen; denn die mächtigen Räume des Theaters der Königin
weiß er auch bei starker Orchesterbegleitung vortrefflich zu füllen, der Umfang ist
nicht bedeutend, wenigstens braucht er schon früh das Falsett, der Klang hat
etwas Hartes, Rauhes. Das Interessante an diesem Sänger ist die Art des
Vortrags. Was Stärke und Schwäche des Tons betrifft, so bewegt er sich nur
in Extremen; er haucht entweder unhörbar, oder er forcirt seine Stimme a.uf
unerträgliche Weise. Ich hörte von ihm die Adelaide. Hier erging er sich in der
ungebundensten Freiheit des Genius, er war uur Gefühl und Innigkeit; alle
äußern Formen, in die der Componist dnrch Tactstriche und durch das ange¬
gebene Zeitmaß deu innern Gehalt einzudämmen für gut befunden hatte, sie
waren für ihn bis auf die letzte Spur verschwunden. Dem sehnsüchtigster Adagio
jagte das wildeste Presto nach, und unmittelbar darauf wieder ein Adagio —
er schien ein'Abbild im Kleinen von dem Typus geben zu wollen, den die
National-Concerte im Ganzen hatten. Von Sims Meeves wurde mir gesagt,
daß er der eigentliche Vertreter des englischen Geschmacks sei. — Einen viel bes¬
sern Eindruck machte mir eine englische Sängerin, die sich, wenn ich nicht irre,
an eiuen Spanier verheirathet hatte, Madame Biscaccianti. Ihre Stimme
war klar und angenehm, und ihre Schule zwar nach den Proben, die ich von
ihr gehört habe, nicht von classischer Gediegenheit, aber doch von den rohesten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/39>, abgerufen am 20.06.2024.