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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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gebildeter sein müsse. -- Von der Straßenmusik erhob ich mich allmälig zu der
Bekanntschaft mit andern musikalischen Vergnügungen der Weltstadt, und hier,
muß ich gestehen, siel mein Urtheil minder günstig aus. Ich mache keinen An¬
spruch darauf, das musikalische Leben Englands vollständig kennen gelernt zu
haben. Der dicke, gelbliche Nebel, der in den Herbst- nud Wintermonaten die
Lungen mit Verwüstung bedroht, scheucht die vornehme Welt ans der Haupt¬
stadt auf ihre Landgüter und der GeschäftSireibeude fühlt in der Regel nicht die
Nothwendigkeit, durch die heitern Gaben der Musen sein Dasein zu beleben. So
gibt es jetzt keine italienische, keine englische Oper; nichts, als Concerte, die
zwar nicht ausreichen für ein abschließendes Urtheil über englischen Geschmack
und Genuß, deu Deutschen aber doch einen Blick in die Stellung thun lassen,
welche das politisch reifste Volk der Gegenwart zu der modernsten aller Künste, der
Musik, hat.

Bekanntlich hat England keinen Ueberfluß an guten Componisten. Uuter
deu jetzt lebenden sind Balfe und Macfarren diejenigen, auf die es sich am
meisten zu gut thut. Balfe, ein Nachahmer Ander's, gehört zu dem sehr kleinen
Theil der englischen Nation, der auch in den übrigen Lebensbeziehungen den
specifischen Engländer verleugnet und sich die tändelnde Leichtfertigkeit, die liebens¬
würdige Frivolität des französischen Volkes zu eigen machen möchte. Doch gelingt
dem Engländer diese Entfremdung schlecht. Er kann wohl leichtfertig und frivol
sein, aber er ist nicht tändelnd und liebenswürdig. So zeigt sich Balfe in seinen
Compositionen, so als Dirigent. Ihm war in diesem Herbst die Direction der
sogenannten "großen National-Concerte" anvertraut, und wie wenig war er dieser
Stellung gewachsen! Zwar an dein Programm der Concerte ist er nicht schuld.
Ein solches Programm erfüllt deu Deutschen mit Widerwillen; da findet man
dicht neben einer Beethoven'schen Symphonie Variationen für irgend ein belie¬
biges Instrument von irgend einem der schlechtesten modernen Gelegenheit-Kom¬
ponisten, nach einem alt-italienischen Kirchengesang eine Labitzky'sche Polka, nach
einer Händel'schen Arie ein Potpourri aus der Negimeutstochter; es ist, als ob
absichtlich die frappantesten Beispiele des Guten und Schlechten in der Kunst
aneinandergereiht wären, um ein blasirtes und kunstloses Publicum aus dem Schlaf
zu schütteln. Die Verfertigung dieser deukenswerthen Programme war die Haupt¬
thätigkeit des Maunes, dem die Unternehmer der großen National-Concerte die
gesammte äußere Geschäftsführung übertragen hatten. Dieser Mann dünkte sich
selbst ein großer Kunstverständiger, ja selbst Komponist zu sein; die Ausführung
überließ er Andern, aber die Zusammenstellung, die Anordnung ließ er sich nicht
nehmen. Für jeden Concertabend forderte er von Balfe ein Programm, und
stets faud Balfe am andern Morgen in der Zeitung ein ganz anderes nach dem
Kopfe des Geschäftsführers, der indeß das englische Publicum vielleicht besser
verstand, als Balfe selbst. An Balfe ist zu tadeln, daß er diesem geschmacklosen


gebildeter sein müsse. — Von der Straßenmusik erhob ich mich allmälig zu der
Bekanntschaft mit andern musikalischen Vergnügungen der Weltstadt, und hier,
muß ich gestehen, siel mein Urtheil minder günstig aus. Ich mache keinen An¬
spruch darauf, das musikalische Leben Englands vollständig kennen gelernt zu
haben. Der dicke, gelbliche Nebel, der in den Herbst- nud Wintermonaten die
Lungen mit Verwüstung bedroht, scheucht die vornehme Welt ans der Haupt¬
stadt auf ihre Landgüter und der GeschäftSireibeude fühlt in der Regel nicht die
Nothwendigkeit, durch die heitern Gaben der Musen sein Dasein zu beleben. So
gibt es jetzt keine italienische, keine englische Oper; nichts, als Concerte, die
zwar nicht ausreichen für ein abschließendes Urtheil über englischen Geschmack
und Genuß, deu Deutschen aber doch einen Blick in die Stellung thun lassen,
welche das politisch reifste Volk der Gegenwart zu der modernsten aller Künste, der
Musik, hat.

Bekanntlich hat England keinen Ueberfluß an guten Componisten. Uuter
deu jetzt lebenden sind Balfe und Macfarren diejenigen, auf die es sich am
meisten zu gut thut. Balfe, ein Nachahmer Ander's, gehört zu dem sehr kleinen
Theil der englischen Nation, der auch in den übrigen Lebensbeziehungen den
specifischen Engländer verleugnet und sich die tändelnde Leichtfertigkeit, die liebens¬
würdige Frivolität des französischen Volkes zu eigen machen möchte. Doch gelingt
dem Engländer diese Entfremdung schlecht. Er kann wohl leichtfertig und frivol
sein, aber er ist nicht tändelnd und liebenswürdig. So zeigt sich Balfe in seinen
Compositionen, so als Dirigent. Ihm war in diesem Herbst die Direction der
sogenannten „großen National-Concerte" anvertraut, und wie wenig war er dieser
Stellung gewachsen! Zwar an dein Programm der Concerte ist er nicht schuld.
Ein solches Programm erfüllt deu Deutschen mit Widerwillen; da findet man
dicht neben einer Beethoven'schen Symphonie Variationen für irgend ein belie¬
biges Instrument von irgend einem der schlechtesten modernen Gelegenheit-Kom¬
ponisten, nach einem alt-italienischen Kirchengesang eine Labitzky'sche Polka, nach
einer Händel'schen Arie ein Potpourri aus der Negimeutstochter; es ist, als ob
absichtlich die frappantesten Beispiele des Guten und Schlechten in der Kunst
aneinandergereiht wären, um ein blasirtes und kunstloses Publicum aus dem Schlaf
zu schütteln. Die Verfertigung dieser deukenswerthen Programme war die Haupt¬
thätigkeit des Maunes, dem die Unternehmer der großen National-Concerte die
gesammte äußere Geschäftsführung übertragen hatten. Dieser Mann dünkte sich
selbst ein großer Kunstverständiger, ja selbst Komponist zu sein; die Ausführung
überließ er Andern, aber die Zusammenstellung, die Anordnung ließ er sich nicht
nehmen. Für jeden Concertabend forderte er von Balfe ein Programm, und
stets faud Balfe am andern Morgen in der Zeitung ein ganz anderes nach dem
Kopfe des Geschäftsführers, der indeß das englische Publicum vielleicht besser
verstand, als Balfe selbst. An Balfe ist zu tadeln, daß er diesem geschmacklosen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/38>, abgerufen am 04.07.2024.