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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Abstractionen, da sie gegen die derben und kräftigen Charaktere, die bis zum
Kleinsten herunter mit einer liebenswürdigen Laune geschildert isind, abstechen.
Isolde will den Zimmermann nicht blos darum heirathen, weil sie ihn liebt, son¬
dern weil sie sich vorgesetzt hat, einen Manu aus dem Volke zu beglücken. Dabei
hat sie so viel aristokratische Capricen, daß man eine große Familienähnlichkeit
mit Alezia Albini und mit Fiamma nicht verkennen wird. Einzelne Züge, z. B.
die Verehrung vor der tugendhaften Frau aus dem Volke, sind geradezu
dieser letztern entnommen. Pierre Hnguenin ist nicht allein im Verhältniß zu
seiner Geliebten, sondern anch zu seinen Standesgenossen, die ihn als einen zweiten
Christus verehren, von einem sehr ungesunden Idealismus. Er ist über die Vor¬
urtheile der Gesellenverbindungen, die mit den Landsmannschaften unserer Uni¬
versitäten viel Aehnlichkeit haben, weit hinaus und predigt eine allgemeine Einheit
wie unsere Burschenschafter; aber er übersieht dabei, daß diejenigen Institute, in
welchen irgend ein nützlicher Zweck verfolgt wird, immer in der Form der Einzel¬
heit und Bestimmtheit auftreten müssen, und nicht jede Irrationalität überwinden
können. Bei dem großen Nutzen, den die verschiedenen Zunftgenossen ans ihren
Verbindungen gezogen haben, und bei dem frischen, gesunden Leben, das sich
daraus entwickelt, ist es kein so großes Unglück, wenn anch hin und wieder
Schlägereien und ähnliche Uebelstände daraus entstehen. Wenn er ferner sich
den politischen Umtrieben, die doch das eigentliche Volk nicht in eine bessere Lage
bringen können, entzieht, so ist das zwar sehr lobenswert!), denn Niemand soll
an einem Unternehmen Theil nehmen, für dessen Folgen er die Verantwortlichkeit
mit tragen müßte, und das er doch nicht vollständig übersteht; aber seine eignen
Phantasiegemälde von der Zukunft des Volkes haben keine größere Berechtigung,
als eben jene Träumereien. Charakteristisch ist die Art, wie er die Bildung seines
Herzens und Geistes ergänzt. Er hat nämlich, während er im Schloß des Grafen
Villeprenx eine künstlich allsgearbeitete Treppe zimmert, die Nächte in Mölders
Zimmer zuerst den Walter Scott, dann den Lamennais studirt, und diese Ver¬
mischung der novellistischen Wünsche mit dem hochfliegenden poetischen Idealismus
bezeichnet das Wesen des modernen Prophetenthnms ans das Treffendste. Cha¬
rakteristisch ist ferner, daß der Roman Fragment geblieben ist. Georges Seind
wußte zuletzt uicht, wie sie ihre Probleme lösen sollte.

An dieses Werk schließen sich drei Romane ähnlicher Richtung an: Con-
suelo, der Müller von Angibanlt lind die Sünde des Herrn An¬
ton. Ich hebe zunächst das Gemeinsame hervor, das sich in allen wieder¬
findet, und das mit der gleichzeitigen Bewegung der französischen Literatur in
engem Rapport steht. Es läßt sich dasselbe in folgende drei Momente zusam¬
menfassen.

Einmal wird die mythische Figur des Volks den Solopartien der Geschichte
gegenüber als ein Ideal dargestellt. Die Geschichtsbücher der damaligen Zeit,


Abstractionen, da sie gegen die derben und kräftigen Charaktere, die bis zum
Kleinsten herunter mit einer liebenswürdigen Laune geschildert isind, abstechen.
Isolde will den Zimmermann nicht blos darum heirathen, weil sie ihn liebt, son¬
dern weil sie sich vorgesetzt hat, einen Manu aus dem Volke zu beglücken. Dabei
hat sie so viel aristokratische Capricen, daß man eine große Familienähnlichkeit
mit Alezia Albini und mit Fiamma nicht verkennen wird. Einzelne Züge, z. B.
die Verehrung vor der tugendhaften Frau aus dem Volke, sind geradezu
dieser letztern entnommen. Pierre Hnguenin ist nicht allein im Verhältniß zu
seiner Geliebten, sondern anch zu seinen Standesgenossen, die ihn als einen zweiten
Christus verehren, von einem sehr ungesunden Idealismus. Er ist über die Vor¬
urtheile der Gesellenverbindungen, die mit den Landsmannschaften unserer Uni¬
versitäten viel Aehnlichkeit haben, weit hinaus und predigt eine allgemeine Einheit
wie unsere Burschenschafter; aber er übersieht dabei, daß diejenigen Institute, in
welchen irgend ein nützlicher Zweck verfolgt wird, immer in der Form der Einzel¬
heit und Bestimmtheit auftreten müssen, und nicht jede Irrationalität überwinden
können. Bei dem großen Nutzen, den die verschiedenen Zunftgenossen ans ihren
Verbindungen gezogen haben, und bei dem frischen, gesunden Leben, das sich
daraus entwickelt, ist es kein so großes Unglück, wenn anch hin und wieder
Schlägereien und ähnliche Uebelstände daraus entstehen. Wenn er ferner sich
den politischen Umtrieben, die doch das eigentliche Volk nicht in eine bessere Lage
bringen können, entzieht, so ist das zwar sehr lobenswert!), denn Niemand soll
an einem Unternehmen Theil nehmen, für dessen Folgen er die Verantwortlichkeit
mit tragen müßte, und das er doch nicht vollständig übersteht; aber seine eignen
Phantasiegemälde von der Zukunft des Volkes haben keine größere Berechtigung,
als eben jene Träumereien. Charakteristisch ist die Art, wie er die Bildung seines
Herzens und Geistes ergänzt. Er hat nämlich, während er im Schloß des Grafen
Villeprenx eine künstlich allsgearbeitete Treppe zimmert, die Nächte in Mölders
Zimmer zuerst den Walter Scott, dann den Lamennais studirt, und diese Ver¬
mischung der novellistischen Wünsche mit dem hochfliegenden poetischen Idealismus
bezeichnet das Wesen des modernen Prophetenthnms ans das Treffendste. Cha¬
rakteristisch ist ferner, daß der Roman Fragment geblieben ist. Georges Seind
wußte zuletzt uicht, wie sie ihre Probleme lösen sollte.

An dieses Werk schließen sich drei Romane ähnlicher Richtung an: Con-
suelo, der Müller von Angibanlt lind die Sünde des Herrn An¬
ton. Ich hebe zunächst das Gemeinsame hervor, das sich in allen wieder¬
findet, und das mit der gleichzeitigen Bewegung der französischen Literatur in
engem Rapport steht. Es läßt sich dasselbe in folgende drei Momente zusam¬
menfassen.

Einmal wird die mythische Figur des Volks den Solopartien der Geschichte
gegenüber als ein Ideal dargestellt. Die Geschichtsbücher der damaligen Zeit,


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[0388] Abstractionen, da sie gegen die derben und kräftigen Charaktere, die bis zum Kleinsten herunter mit einer liebenswürdigen Laune geschildert isind, abstechen. Isolde will den Zimmermann nicht blos darum heirathen, weil sie ihn liebt, son¬ dern weil sie sich vorgesetzt hat, einen Manu aus dem Volke zu beglücken. Dabei hat sie so viel aristokratische Capricen, daß man eine große Familienähnlichkeit mit Alezia Albini und mit Fiamma nicht verkennen wird. Einzelne Züge, z. B. die Verehrung vor der tugendhaften Frau aus dem Volke, sind geradezu dieser letztern entnommen. Pierre Hnguenin ist nicht allein im Verhältniß zu seiner Geliebten, sondern anch zu seinen Standesgenossen, die ihn als einen zweiten Christus verehren, von einem sehr ungesunden Idealismus. Er ist über die Vor¬ urtheile der Gesellenverbindungen, die mit den Landsmannschaften unserer Uni¬ versitäten viel Aehnlichkeit haben, weit hinaus und predigt eine allgemeine Einheit wie unsere Burschenschafter; aber er übersieht dabei, daß diejenigen Institute, in welchen irgend ein nützlicher Zweck verfolgt wird, immer in der Form der Einzel¬ heit und Bestimmtheit auftreten müssen, und nicht jede Irrationalität überwinden können. Bei dem großen Nutzen, den die verschiedenen Zunftgenossen ans ihren Verbindungen gezogen haben, und bei dem frischen, gesunden Leben, das sich daraus entwickelt, ist es kein so großes Unglück, wenn anch hin und wieder Schlägereien und ähnliche Uebelstände daraus entstehen. Wenn er ferner sich den politischen Umtrieben, die doch das eigentliche Volk nicht in eine bessere Lage bringen können, entzieht, so ist das zwar sehr lobenswert!), denn Niemand soll an einem Unternehmen Theil nehmen, für dessen Folgen er die Verantwortlichkeit mit tragen müßte, und das er doch nicht vollständig übersteht; aber seine eignen Phantasiegemälde von der Zukunft des Volkes haben keine größere Berechtigung, als eben jene Träumereien. Charakteristisch ist die Art, wie er die Bildung seines Herzens und Geistes ergänzt. Er hat nämlich, während er im Schloß des Grafen Villeprenx eine künstlich allsgearbeitete Treppe zimmert, die Nächte in Mölders Zimmer zuerst den Walter Scott, dann den Lamennais studirt, und diese Ver¬ mischung der novellistischen Wünsche mit dem hochfliegenden poetischen Idealismus bezeichnet das Wesen des modernen Prophetenthnms ans das Treffendste. Cha¬ rakteristisch ist ferner, daß der Roman Fragment geblieben ist. Georges Seind wußte zuletzt uicht, wie sie ihre Probleme lösen sollte. An dieses Werk schließen sich drei Romane ähnlicher Richtung an: Con- suelo, der Müller von Angibanlt lind die Sünde des Herrn An¬ ton. Ich hebe zunächst das Gemeinsame hervor, das sich in allen wieder¬ findet, und das mit der gleichzeitigen Bewegung der französischen Literatur in engem Rapport steht. Es läßt sich dasselbe in folgende drei Momente zusam¬ menfassen. Einmal wird die mythische Figur des Volks den Solopartien der Geschichte gegenüber als ein Ideal dargestellt. Die Geschichtsbücher der damaligen Zeit,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/388>, abgerufen am 28.06.2024.