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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Geist auf, aber ohne das Costüm, das bei einem anständigen Geist unerläßlich
ist, und sein Schüler Alexis, der sich in den unnützesten Gewisseuöscrupeln um¬
hertreibt und von dem Geist auf eine höchst grausame Weise gequält wird, weiß
zuletzt keinen audern Ausweg, als daß er das Martyrium für eine Religion
erduldet, die uicht die seinige ist. Die Hauptquelle dieser Phantasien über
Religion und Menschenleben ist die Schrift des jüdischen Kritikers Salvador,
der bei den neuchristlichen Romantikern in Frankreich einiges Ansehen genießt.

Ich komme jetzt nach Beseitigung dieser Verwirrungen zu denjenigen Novellen,
bei denen wir mit Freude verweilen, tonnen. Die erste ist eine kleine Novelle,
Andre. In dieser Novelle hat Georges Sand zum ersten Male vollständig
ihre Kunst entfaltet, eine sehr trübe und schmerzlich ergreifende Geschichte zu einem
lebensvollen Bilde zu gestalten, welches einen heiteren Eindruck macht. Der
Hauptcharakter, den wir der Anlage nach bereits in vielen ihrer frühern Versuche
vorgebildet gefunden haben, ist der geistreiche Mann, der doch tief unter den
gewöhnlichen Menschen steht, weil er keinen Willen hat. Die Schwäche dieses
Menschen, der niemals offen Nein sagen kann, der eher einen heroischen Tod, als
ein hartes Wort ertragen möchte, der zum heimlichen Widerstand flüchtet, auch
wenn dieser ihn in schwierigere Lagen bringt, als eine bestimmte einfache Erklä¬
rung, und der darüber trotz seines tiefen nud innigen Gefühls zu der verwerf¬
lichsten Selbstsucht getrieben wird, ist mit einer erschreckenden Wahrheit geschildert.
Eine Reihe derber, dreister Naturen, die zwar nicht viel Gutes wollen, aber was
sie wollen, fest wollen, auf die er in seiner Unbestimmtheit eine Art poetischen
Reiz ausübt, siud ihm zum Relief gegeben; vor allen ein strenger, geiziger,
tyrannischer Vater und ein gutmüthiger, aber nicht sehr gewissenhafter Jugend¬
freund, der das Leben nimmt, wie es ebeu ist, der aber, wo es eiuen ern¬
sten Conflict gilt, mit sehr feinem Instinkt das Recht vom Unrecht zu unter¬
scheiden weiß. Wenn schon in dieser Gruppe, die beiläufig dem Contrast von
Hamlet und Laertes entspricht, die ebeu so feste als saubere Plastik erfreut, so
wird das poetische Interesse erhöht durch eine ideale Natur, mit der Andre seiner
natürlichen Anlage nach in Berührung kommt, für die aber diese Berührung ver¬
hängnisvoll werden muß. Genevieve, das Blumenmädchen, ist eine der zartesten
Gestalten, die Georges Saud gezeichnet hat. Der Uebergang ans dem Zustand
der naiven, anmuthigen Unwissenheit, ans welcher die Lehren ihres Geliebten wie
die bittern Erfahrungen des Lebens sie ziehen, in das Wissen der Wahrheit, in wel¬
chem sie sehr bald ihren Lehrer überragt, weil ihre reine Natur seine Schwächen
durchschaut, ist sehr poetisch durchgeführt; ihre zarte Erscheinung gewinnt durch
deu Schatten der derberen Grisetten, die sie umgeben, ein noch größeres Licht.
Für uns wird das Interesse an ihr noch dadurch erhöht, daß in ihr zum ersten
Male eine neue Wendung in dem Idealismus uuserer Dichterin deutlich wird.
Ihre ersten idealen Frauen sind gewaltig strebsame Naturen, die über ihre Grenzen


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Geist auf, aber ohne das Costüm, das bei einem anständigen Geist unerläßlich
ist, und sein Schüler Alexis, der sich in den unnützesten Gewisseuöscrupeln um¬
hertreibt und von dem Geist auf eine höchst grausame Weise gequält wird, weiß
zuletzt keinen audern Ausweg, als daß er das Martyrium für eine Religion
erduldet, die uicht die seinige ist. Die Hauptquelle dieser Phantasien über
Religion und Menschenleben ist die Schrift des jüdischen Kritikers Salvador,
der bei den neuchristlichen Romantikern in Frankreich einiges Ansehen genießt.

Ich komme jetzt nach Beseitigung dieser Verwirrungen zu denjenigen Novellen,
bei denen wir mit Freude verweilen, tonnen. Die erste ist eine kleine Novelle,
Andre. In dieser Novelle hat Georges Sand zum ersten Male vollständig
ihre Kunst entfaltet, eine sehr trübe und schmerzlich ergreifende Geschichte zu einem
lebensvollen Bilde zu gestalten, welches einen heiteren Eindruck macht. Der
Hauptcharakter, den wir der Anlage nach bereits in vielen ihrer frühern Versuche
vorgebildet gefunden haben, ist der geistreiche Mann, der doch tief unter den
gewöhnlichen Menschen steht, weil er keinen Willen hat. Die Schwäche dieses
Menschen, der niemals offen Nein sagen kann, der eher einen heroischen Tod, als
ein hartes Wort ertragen möchte, der zum heimlichen Widerstand flüchtet, auch
wenn dieser ihn in schwierigere Lagen bringt, als eine bestimmte einfache Erklä¬
rung, und der darüber trotz seines tiefen nud innigen Gefühls zu der verwerf¬
lichsten Selbstsucht getrieben wird, ist mit einer erschreckenden Wahrheit geschildert.
Eine Reihe derber, dreister Naturen, die zwar nicht viel Gutes wollen, aber was
sie wollen, fest wollen, auf die er in seiner Unbestimmtheit eine Art poetischen
Reiz ausübt, siud ihm zum Relief gegeben; vor allen ein strenger, geiziger,
tyrannischer Vater und ein gutmüthiger, aber nicht sehr gewissenhafter Jugend¬
freund, der das Leben nimmt, wie es ebeu ist, der aber, wo es eiuen ern¬
sten Conflict gilt, mit sehr feinem Instinkt das Recht vom Unrecht zu unter¬
scheiden weiß. Wenn schon in dieser Gruppe, die beiläufig dem Contrast von
Hamlet und Laertes entspricht, die ebeu so feste als saubere Plastik erfreut, so
wird das poetische Interesse erhöht durch eine ideale Natur, mit der Andre seiner
natürlichen Anlage nach in Berührung kommt, für die aber diese Berührung ver¬
hängnisvoll werden muß. Genevieve, das Blumenmädchen, ist eine der zartesten
Gestalten, die Georges Saud gezeichnet hat. Der Uebergang ans dem Zustand
der naiven, anmuthigen Unwissenheit, ans welcher die Lehren ihres Geliebten wie
die bittern Erfahrungen des Lebens sie ziehen, in das Wissen der Wahrheit, in wel¬
chem sie sehr bald ihren Lehrer überragt, weil ihre reine Natur seine Schwächen
durchschaut, ist sehr poetisch durchgeführt; ihre zarte Erscheinung gewinnt durch
deu Schatten der derberen Grisetten, die sie umgeben, ein noch größeres Licht.
Für uns wird das Interesse an ihr noch dadurch erhöht, daß in ihr zum ersten
Male eine neue Wendung in dem Idealismus uuserer Dichterin deutlich wird.
Ihre ersten idealen Frauen sind gewaltig strebsame Naturen, die über ihre Grenzen


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[0383] Geist auf, aber ohne das Costüm, das bei einem anständigen Geist unerläßlich ist, und sein Schüler Alexis, der sich in den unnützesten Gewisseuöscrupeln um¬ hertreibt und von dem Geist auf eine höchst grausame Weise gequält wird, weiß zuletzt keinen audern Ausweg, als daß er das Martyrium für eine Religion erduldet, die uicht die seinige ist. Die Hauptquelle dieser Phantasien über Religion und Menschenleben ist die Schrift des jüdischen Kritikers Salvador, der bei den neuchristlichen Romantikern in Frankreich einiges Ansehen genießt. Ich komme jetzt nach Beseitigung dieser Verwirrungen zu denjenigen Novellen, bei denen wir mit Freude verweilen, tonnen. Die erste ist eine kleine Novelle, Andre. In dieser Novelle hat Georges Sand zum ersten Male vollständig ihre Kunst entfaltet, eine sehr trübe und schmerzlich ergreifende Geschichte zu einem lebensvollen Bilde zu gestalten, welches einen heiteren Eindruck macht. Der Hauptcharakter, den wir der Anlage nach bereits in vielen ihrer frühern Versuche vorgebildet gefunden haben, ist der geistreiche Mann, der doch tief unter den gewöhnlichen Menschen steht, weil er keinen Willen hat. Die Schwäche dieses Menschen, der niemals offen Nein sagen kann, der eher einen heroischen Tod, als ein hartes Wort ertragen möchte, der zum heimlichen Widerstand flüchtet, auch wenn dieser ihn in schwierigere Lagen bringt, als eine bestimmte einfache Erklä¬ rung, und der darüber trotz seines tiefen nud innigen Gefühls zu der verwerf¬ lichsten Selbstsucht getrieben wird, ist mit einer erschreckenden Wahrheit geschildert. Eine Reihe derber, dreister Naturen, die zwar nicht viel Gutes wollen, aber was sie wollen, fest wollen, auf die er in seiner Unbestimmtheit eine Art poetischen Reiz ausübt, siud ihm zum Relief gegeben; vor allen ein strenger, geiziger, tyrannischer Vater und ein gutmüthiger, aber nicht sehr gewissenhafter Jugend¬ freund, der das Leben nimmt, wie es ebeu ist, der aber, wo es eiuen ern¬ sten Conflict gilt, mit sehr feinem Instinkt das Recht vom Unrecht zu unter¬ scheiden weiß. Wenn schon in dieser Gruppe, die beiläufig dem Contrast von Hamlet und Laertes entspricht, die ebeu so feste als saubere Plastik erfreut, so wird das poetische Interesse erhöht durch eine ideale Natur, mit der Andre seiner natürlichen Anlage nach in Berührung kommt, für die aber diese Berührung ver¬ hängnisvoll werden muß. Genevieve, das Blumenmädchen, ist eine der zartesten Gestalten, die Georges Saud gezeichnet hat. Der Uebergang ans dem Zustand der naiven, anmuthigen Unwissenheit, ans welcher die Lehren ihres Geliebten wie die bittern Erfahrungen des Lebens sie ziehen, in das Wissen der Wahrheit, in wel¬ chem sie sehr bald ihren Lehrer überragt, weil ihre reine Natur seine Schwächen durchschaut, ist sehr poetisch durchgeführt; ihre zarte Erscheinung gewinnt durch deu Schatten der derberen Grisetten, die sie umgeben, ein noch größeres Licht. Für uns wird das Interesse an ihr noch dadurch erhöht, daß in ihr zum ersten Male eine neue Wendung in dem Idealismus uuserer Dichterin deutlich wird. Ihre ersten idealen Frauen sind gewaltig strebsame Naturen, die über ihre Grenzen 47*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/383>, abgerufen am 28.06.2024.