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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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hinausgehen und das Recht ihres Geschlechts durch einen Kampf mit dem Leben
zu erobern glauben; in der Genevieve tritt zum ersten Mal die Idee hervor, daß
das Weib zur unendlichen Aufopferung bestimmt sei. Wenn anch dieser Gedanke,
der später namentlich in der Lucretia ausführlicher durchgeführt ist, noch auf die
Spitze getrieben wird, und darum uicht als unbedingte Wahrheit gelten kann;
wenn auch durch die schwärmerische Hoffnung, daß einmal eine Zeit kommen müsse,
wo Poesie Tugend sei, die lebendige Färbung der Wirklichkeit etwas ins Roman¬
tische spielt, so ist dieses doch das erste Werk Georges Sand's, von dem man
mit Recht sagen kann, daß es ebenso sittlich als poetisch sei.

Nicht ganz das gleiche Lob verdient der folgende Roman: Simon.
Simon's Charakter hat mit Benedict eine große Aehnlichkeit. Derselbe fieber¬
hafte, aber unbestimmte Ehrgeiz hat über sein Gesicht jene interessante Blässe
ergossen, die den Nomanhelden vom wirklich tüchtigen Menschen unterscheidet.
Als Sohn des Volkes verachtet er die Bourgeoisie und das bürgerliche Wesen,
und betet die Aristokratie an, obgleich er im Herzen Republikaner ist. Fiamma,
die adelige Dame, läßt sich seine Anbetung gefallen, und verehrt seine Mutter,
"eine von den Bäuerinnen, die es gegeben haben muß, ehe die patriarchalische
Sitte durch das eiserne Zeitalter verdrängt wurde," mit jener Herablassung,
welche das edle Blut auch mit seiner Verehrung zu verbinden weiß; sie zieht
den schlichten Bauerssohn einem schönen leichtfertigen Marquis vor, der mit ihr
für die Befreiung Italiens schwärmt. Ihr Vater, ein emigrirter Marquis, der
nach der Restauration sich in das industrielle Leben begeben hat, wird als Sym¬
bol des herzlosen Krämergeistes, der unter Umständen zu Niedrigkeiten, ja zu
Verbrechen führen kann, verhöhnt. Das alles ist in der Anlage sehr romantisch,
und die Verbindung des sogenannten Volks mit der Aristokratie gegen den Bür¬
gerstand ist sogar eines von den schlimmsten Symptomen der verdrehten neumo-
dischen Politik. Aber nachdem Fiamma und Simon sich verheirathet haben, müssen
sie doch wohl oder übel in das bürgerliche Leben und in dessen unverdrossene
Geschäftigkeit eintreten. So kann man die Novelle als Ueberwindung der Ro¬
mantik durch Beschränkung in den Kreis der wirklichen Verhältnisse betrachten,
und sich über.ihre frischen Farben und lebendige Darstellung freuen.

Die letzte Albini hat mit der vorigen viel Aehnlichkeit. Der Held ist
ein Schauspieler, Lelio, der mit zwei adeligen Damen, Mutter und Tochter,
in Verhältniß tritt. Die erste hat ihn als armen Gondelführer aufgefunden, sich
seiner angenommen und seine Stimme ausbilden lassen Es ist daraus ein Ver¬
hältniß entstanden, welches sehr an das zwischen Rousseau und Frau v. Warrens
erinnert, und welches zuletzt so leidenschaftlicher Natur wird, daß die Gräfin ihn:
ihre Hand anträgt. Er ist so verständig, sie anzuschlagen, geht ans's Theater
und wird ein berühmter Sänger. Aber sein Schicksal führt ihn zum zweiten
Mal mit der Familie zusammen. Die schöne Alezia, die Tochter der Gräfin, eine


hinausgehen und das Recht ihres Geschlechts durch einen Kampf mit dem Leben
zu erobern glauben; in der Genevieve tritt zum ersten Mal die Idee hervor, daß
das Weib zur unendlichen Aufopferung bestimmt sei. Wenn anch dieser Gedanke,
der später namentlich in der Lucretia ausführlicher durchgeführt ist, noch auf die
Spitze getrieben wird, und darum uicht als unbedingte Wahrheit gelten kann;
wenn auch durch die schwärmerische Hoffnung, daß einmal eine Zeit kommen müsse,
wo Poesie Tugend sei, die lebendige Färbung der Wirklichkeit etwas ins Roman¬
tische spielt, so ist dieses doch das erste Werk Georges Sand's, von dem man
mit Recht sagen kann, daß es ebenso sittlich als poetisch sei.

Nicht ganz das gleiche Lob verdient der folgende Roman: Simon.
Simon's Charakter hat mit Benedict eine große Aehnlichkeit. Derselbe fieber¬
hafte, aber unbestimmte Ehrgeiz hat über sein Gesicht jene interessante Blässe
ergossen, die den Nomanhelden vom wirklich tüchtigen Menschen unterscheidet.
Als Sohn des Volkes verachtet er die Bourgeoisie und das bürgerliche Wesen,
und betet die Aristokratie an, obgleich er im Herzen Republikaner ist. Fiamma,
die adelige Dame, läßt sich seine Anbetung gefallen, und verehrt seine Mutter,
„eine von den Bäuerinnen, die es gegeben haben muß, ehe die patriarchalische
Sitte durch das eiserne Zeitalter verdrängt wurde," mit jener Herablassung,
welche das edle Blut auch mit seiner Verehrung zu verbinden weiß; sie zieht
den schlichten Bauerssohn einem schönen leichtfertigen Marquis vor, der mit ihr
für die Befreiung Italiens schwärmt. Ihr Vater, ein emigrirter Marquis, der
nach der Restauration sich in das industrielle Leben begeben hat, wird als Sym¬
bol des herzlosen Krämergeistes, der unter Umständen zu Niedrigkeiten, ja zu
Verbrechen führen kann, verhöhnt. Das alles ist in der Anlage sehr romantisch,
und die Verbindung des sogenannten Volks mit der Aristokratie gegen den Bür¬
gerstand ist sogar eines von den schlimmsten Symptomen der verdrehten neumo-
dischen Politik. Aber nachdem Fiamma und Simon sich verheirathet haben, müssen
sie doch wohl oder übel in das bürgerliche Leben und in dessen unverdrossene
Geschäftigkeit eintreten. So kann man die Novelle als Ueberwindung der Ro¬
mantik durch Beschränkung in den Kreis der wirklichen Verhältnisse betrachten,
und sich über.ihre frischen Farben und lebendige Darstellung freuen.

Die letzte Albini hat mit der vorigen viel Aehnlichkeit. Der Held ist
ein Schauspieler, Lelio, der mit zwei adeligen Damen, Mutter und Tochter,
in Verhältniß tritt. Die erste hat ihn als armen Gondelführer aufgefunden, sich
seiner angenommen und seine Stimme ausbilden lassen Es ist daraus ein Ver¬
hältniß entstanden, welches sehr an das zwischen Rousseau und Frau v. Warrens
erinnert, und welches zuletzt so leidenschaftlicher Natur wird, daß die Gräfin ihn:
ihre Hand anträgt. Er ist so verständig, sie anzuschlagen, geht ans's Theater
und wird ein berühmter Sänger. Aber sein Schicksal führt ihn zum zweiten
Mal mit der Familie zusammen. Die schöne Alezia, die Tochter der Gräfin, eine


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[0384] hinausgehen und das Recht ihres Geschlechts durch einen Kampf mit dem Leben zu erobern glauben; in der Genevieve tritt zum ersten Mal die Idee hervor, daß das Weib zur unendlichen Aufopferung bestimmt sei. Wenn anch dieser Gedanke, der später namentlich in der Lucretia ausführlicher durchgeführt ist, noch auf die Spitze getrieben wird, und darum uicht als unbedingte Wahrheit gelten kann; wenn auch durch die schwärmerische Hoffnung, daß einmal eine Zeit kommen müsse, wo Poesie Tugend sei, die lebendige Färbung der Wirklichkeit etwas ins Roman¬ tische spielt, so ist dieses doch das erste Werk Georges Sand's, von dem man mit Recht sagen kann, daß es ebenso sittlich als poetisch sei. Nicht ganz das gleiche Lob verdient der folgende Roman: Simon. Simon's Charakter hat mit Benedict eine große Aehnlichkeit. Derselbe fieber¬ hafte, aber unbestimmte Ehrgeiz hat über sein Gesicht jene interessante Blässe ergossen, die den Nomanhelden vom wirklich tüchtigen Menschen unterscheidet. Als Sohn des Volkes verachtet er die Bourgeoisie und das bürgerliche Wesen, und betet die Aristokratie an, obgleich er im Herzen Republikaner ist. Fiamma, die adelige Dame, läßt sich seine Anbetung gefallen, und verehrt seine Mutter, „eine von den Bäuerinnen, die es gegeben haben muß, ehe die patriarchalische Sitte durch das eiserne Zeitalter verdrängt wurde," mit jener Herablassung, welche das edle Blut auch mit seiner Verehrung zu verbinden weiß; sie zieht den schlichten Bauerssohn einem schönen leichtfertigen Marquis vor, der mit ihr für die Befreiung Italiens schwärmt. Ihr Vater, ein emigrirter Marquis, der nach der Restauration sich in das industrielle Leben begeben hat, wird als Sym¬ bol des herzlosen Krämergeistes, der unter Umständen zu Niedrigkeiten, ja zu Verbrechen führen kann, verhöhnt. Das alles ist in der Anlage sehr romantisch, und die Verbindung des sogenannten Volks mit der Aristokratie gegen den Bür¬ gerstand ist sogar eines von den schlimmsten Symptomen der verdrehten neumo- dischen Politik. Aber nachdem Fiamma und Simon sich verheirathet haben, müssen sie doch wohl oder übel in das bürgerliche Leben und in dessen unverdrossene Geschäftigkeit eintreten. So kann man die Novelle als Ueberwindung der Ro¬ mantik durch Beschränkung in den Kreis der wirklichen Verhältnisse betrachten, und sich über.ihre frischen Farben und lebendige Darstellung freuen. Die letzte Albini hat mit der vorigen viel Aehnlichkeit. Der Held ist ein Schauspieler, Lelio, der mit zwei adeligen Damen, Mutter und Tochter, in Verhältniß tritt. Die erste hat ihn als armen Gondelführer aufgefunden, sich seiner angenommen und seine Stimme ausbilden lassen Es ist daraus ein Ver¬ hältniß entstanden, welches sehr an das zwischen Rousseau und Frau v. Warrens erinnert, und welches zuletzt so leidenschaftlicher Natur wird, daß die Gräfin ihn: ihre Hand anträgt. Er ist so verständig, sie anzuschlagen, geht ans's Theater und wird ein berühmter Sänger. Aber sein Schicksal führt ihn zum zweiten Mal mit der Familie zusammen. Die schöne Alezia, die Tochter der Gräfin, eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/384>, abgerufen am 28.06.2024.