Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Folgerung des ungerechtfertigten Verlangens, daß ein Clocck Wohlgeruch aus¬
streuen solle. Die frühere Poesie wußte sehr gut, daß die Verwesung etwas
Unschönes sei, und vermied sie daher; die neue stürzt sich mit krankhafter Wol¬
lust hinein, und siudet sich höchst unglücklich darüber, daß sich uoch andere Düfte
darin verbreiten, als die der Rosen und Narcissen.

-- Wenn diese ganze Schilderung den Vorwurf der Einseitigkeit und Schwarz-
sichtigkeit ans sich ziehen sollte, so erinnere ich nur an Eins: Die deutsche Poesie
ist darum vornehmlich in der Tendenz stecken geblieben, weil sie ihre Grenze überschrit¬
ten hat. Sie glaubte ihr Gebiet zu erweitern, wenn sie vom Schönen abging, und die
Momente des Werdens und Vergehens, die der Wissenschaft angehören, mit ihrem Licht
zu verklären suchte. Es hat sich aber gezeigt, daß diese Vermischung eine unheilvolle
war. Die Wissenschaft, soweit sie sich ihrerseits frei davon gehalten, ist mit Riesen¬
schritten weiter gedrungen; die Poesie ist ans einer Krankheit in die andere
gefallen. -- Es ist also eine Reaction, eine Rückkehr zum Schönen, und ein Auf¬
geben der anatomischen Neflerwusthätigkeit nothwendig; und unsere Zeit scheint
um so mehr geeignet zu einer entschiedenen Wendung anch in diesem Gebiet, da
sie auch in Bezug ans das eigentliche Leben sehr energisch mit allen Illusionen
zu brechen sucht. -- Diesen nothwendigen Proceß zu beschleunigen, seinen Ver¬
lauf frei und ungestört zu erhalten, ist eine der vornehmsten Aufgaben der
I. S. neuen Kritik; es ist die Hauptaufgabe, welche wir nus gestellt haben.




Die Musik in London.

Wenn mau als Deutscher in Loudon sich zunächst auf die musikalischen Ein¬
drücke beschränkt, welche mau Abends in den Straßen des fashionablen Westend
empfängt, so wird man nicht umhin können, London einen großen Vorzug z. B.
vor Berlin zuzugestehen. Gewiß hat Niemand, der je in Berlin gewesen ist, den
melancholisch klagenden Ton, die Verstimmung und Gebrechlichkeit zweier Leiern
vergessen, die mau an schönen Nachmittagen in dem ersten Hauptgange der linken
Seite des Thiergartens nah an einander aufgestellt siudet. Der eine Leiermann
spielt: "ich bin ein Preuße", der audere: "Schleswig-Holstein"; und zwischen
diesen Beiden zu stehen oder zu gehen, thut einem musikalischen Ohr -- und
welches Berliner Ohr wäre das nicht? -- so weh, daß man wünscht, der gebil¬
dete Polizeistaat möge noch etwas polizeilicher sein, als er ist. Solche Prü¬
fungen erfuhr ich in London uicht. Ich faud die Leiern leidlich rein gestimmt,
volltönender und durchdringender, und ein Politiker hätte vielleicht den Schluß
gezogen, daß bei einem politisch gebildeten Volke auch der Geschmack des Volles


Grcnzvoten. I. 1851. -4

Folgerung des ungerechtfertigten Verlangens, daß ein Clocck Wohlgeruch aus¬
streuen solle. Die frühere Poesie wußte sehr gut, daß die Verwesung etwas
Unschönes sei, und vermied sie daher; die neue stürzt sich mit krankhafter Wol¬
lust hinein, und siudet sich höchst unglücklich darüber, daß sich uoch andere Düfte
darin verbreiten, als die der Rosen und Narcissen.

— Wenn diese ganze Schilderung den Vorwurf der Einseitigkeit und Schwarz-
sichtigkeit ans sich ziehen sollte, so erinnere ich nur an Eins: Die deutsche Poesie
ist darum vornehmlich in der Tendenz stecken geblieben, weil sie ihre Grenze überschrit¬
ten hat. Sie glaubte ihr Gebiet zu erweitern, wenn sie vom Schönen abging, und die
Momente des Werdens und Vergehens, die der Wissenschaft angehören, mit ihrem Licht
zu verklären suchte. Es hat sich aber gezeigt, daß diese Vermischung eine unheilvolle
war. Die Wissenschaft, soweit sie sich ihrerseits frei davon gehalten, ist mit Riesen¬
schritten weiter gedrungen; die Poesie ist ans einer Krankheit in die andere
gefallen. — Es ist also eine Reaction, eine Rückkehr zum Schönen, und ein Auf¬
geben der anatomischen Neflerwusthätigkeit nothwendig; und unsere Zeit scheint
um so mehr geeignet zu einer entschiedenen Wendung anch in diesem Gebiet, da
sie auch in Bezug ans das eigentliche Leben sehr energisch mit allen Illusionen
zu brechen sucht. — Diesen nothwendigen Proceß zu beschleunigen, seinen Ver¬
lauf frei und ungestört zu erhalten, ist eine der vornehmsten Aufgaben der
I. S. neuen Kritik; es ist die Hauptaufgabe, welche wir nus gestellt haben.




Die Musik in London.

Wenn mau als Deutscher in Loudon sich zunächst auf die musikalischen Ein¬
drücke beschränkt, welche mau Abends in den Straßen des fashionablen Westend
empfängt, so wird man nicht umhin können, London einen großen Vorzug z. B.
vor Berlin zuzugestehen. Gewiß hat Niemand, der je in Berlin gewesen ist, den
melancholisch klagenden Ton, die Verstimmung und Gebrechlichkeit zweier Leiern
vergessen, die mau an schönen Nachmittagen in dem ersten Hauptgange der linken
Seite des Thiergartens nah an einander aufgestellt siudet. Der eine Leiermann
spielt: „ich bin ein Preuße", der audere: „Schleswig-Holstein"; und zwischen
diesen Beiden zu stehen oder zu gehen, thut einem musikalischen Ohr — und
welches Berliner Ohr wäre das nicht? — so weh, daß man wünscht, der gebil¬
dete Polizeistaat möge noch etwas polizeilicher sein, als er ist. Solche Prü¬
fungen erfuhr ich in London uicht. Ich faud die Leiern leidlich rein gestimmt,
volltönender und durchdringender, und ein Politiker hätte vielleicht den Schluß
gezogen, daß bei einem politisch gebildeten Volke auch der Geschmack des Volles


Grcnzvoten. I. 1851. -4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0037" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/91774"/>
          <p xml:id="ID_68" prev="#ID_67"> Folgerung des ungerechtfertigten Verlangens, daß ein Clocck Wohlgeruch aus¬<lb/>
streuen solle. Die frühere Poesie wußte sehr gut, daß die Verwesung etwas<lb/>
Unschönes sei, und vermied sie daher; die neue stürzt sich mit krankhafter Wol¬<lb/>
lust hinein, und siudet sich höchst unglücklich darüber, daß sich uoch andere Düfte<lb/>
darin verbreiten, als die der Rosen und Narcissen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_69"> &#x2014; Wenn diese ganze Schilderung den Vorwurf der Einseitigkeit und Schwarz-<lb/>
sichtigkeit ans sich ziehen sollte, so erinnere ich nur an Eins: Die deutsche Poesie<lb/>
ist darum vornehmlich in der Tendenz stecken geblieben, weil sie ihre Grenze überschrit¬<lb/>
ten hat. Sie glaubte ihr Gebiet zu erweitern, wenn sie vom Schönen abging, und die<lb/>
Momente des Werdens und Vergehens, die der Wissenschaft angehören, mit ihrem Licht<lb/>
zu verklären suchte. Es hat sich aber gezeigt, daß diese Vermischung eine unheilvolle<lb/>
war. Die Wissenschaft, soweit sie sich ihrerseits frei davon gehalten, ist mit Riesen¬<lb/>
schritten weiter gedrungen; die Poesie ist ans einer Krankheit in die andere<lb/>
gefallen. &#x2014; Es ist also eine Reaction, eine Rückkehr zum Schönen, und ein Auf¬<lb/>
geben der anatomischen Neflerwusthätigkeit nothwendig; und unsere Zeit scheint<lb/>
um so mehr geeignet zu einer entschiedenen Wendung anch in diesem Gebiet, da<lb/>
sie auch in Bezug ans das eigentliche Leben sehr energisch mit allen Illusionen<lb/>
zu brechen sucht. &#x2014; Diesen nothwendigen Proceß zu beschleunigen, seinen Ver¬<lb/>
lauf frei und ungestört zu erhalten, ist eine der vornehmsten Aufgaben der<lb/><note type="byline"> I. S.</note> neuen Kritik; es ist die Hauptaufgabe, welche wir nus gestellt haben.  </p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Musik in London.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_70" next="#ID_71"> Wenn mau als Deutscher in Loudon sich zunächst auf die musikalischen Ein¬<lb/>
drücke beschränkt, welche mau Abends in den Straßen des fashionablen Westend<lb/>
empfängt, so wird man nicht umhin können, London einen großen Vorzug z. B.<lb/>
vor Berlin zuzugestehen. Gewiß hat Niemand, der je in Berlin gewesen ist, den<lb/>
melancholisch klagenden Ton, die Verstimmung und Gebrechlichkeit zweier Leiern<lb/>
vergessen, die mau an schönen Nachmittagen in dem ersten Hauptgange der linken<lb/>
Seite des Thiergartens nah an einander aufgestellt siudet. Der eine Leiermann<lb/>
spielt: &#x201E;ich bin ein Preuße", der audere: &#x201E;Schleswig-Holstein"; und zwischen<lb/>
diesen Beiden zu stehen oder zu gehen, thut einem musikalischen Ohr &#x2014; und<lb/>
welches Berliner Ohr wäre das nicht? &#x2014; so weh, daß man wünscht, der gebil¬<lb/>
dete Polizeistaat möge noch etwas polizeilicher sein, als er ist. Solche Prü¬<lb/>
fungen erfuhr ich in London uicht. Ich faud die Leiern leidlich rein gestimmt,<lb/>
volltönender und durchdringender, und ein Politiker hätte vielleicht den Schluß<lb/>
gezogen, daß bei einem politisch gebildeten Volke auch der Geschmack des Volles</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grcnzvoten. I. 1851. -4</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0037] Folgerung des ungerechtfertigten Verlangens, daß ein Clocck Wohlgeruch aus¬ streuen solle. Die frühere Poesie wußte sehr gut, daß die Verwesung etwas Unschönes sei, und vermied sie daher; die neue stürzt sich mit krankhafter Wol¬ lust hinein, und siudet sich höchst unglücklich darüber, daß sich uoch andere Düfte darin verbreiten, als die der Rosen und Narcissen. — Wenn diese ganze Schilderung den Vorwurf der Einseitigkeit und Schwarz- sichtigkeit ans sich ziehen sollte, so erinnere ich nur an Eins: Die deutsche Poesie ist darum vornehmlich in der Tendenz stecken geblieben, weil sie ihre Grenze überschrit¬ ten hat. Sie glaubte ihr Gebiet zu erweitern, wenn sie vom Schönen abging, und die Momente des Werdens und Vergehens, die der Wissenschaft angehören, mit ihrem Licht zu verklären suchte. Es hat sich aber gezeigt, daß diese Vermischung eine unheilvolle war. Die Wissenschaft, soweit sie sich ihrerseits frei davon gehalten, ist mit Riesen¬ schritten weiter gedrungen; die Poesie ist ans einer Krankheit in die andere gefallen. — Es ist also eine Reaction, eine Rückkehr zum Schönen, und ein Auf¬ geben der anatomischen Neflerwusthätigkeit nothwendig; und unsere Zeit scheint um so mehr geeignet zu einer entschiedenen Wendung anch in diesem Gebiet, da sie auch in Bezug ans das eigentliche Leben sehr energisch mit allen Illusionen zu brechen sucht. — Diesen nothwendigen Proceß zu beschleunigen, seinen Ver¬ lauf frei und ungestört zu erhalten, ist eine der vornehmsten Aufgaben der I. S. neuen Kritik; es ist die Hauptaufgabe, welche wir nus gestellt haben. Die Musik in London. Wenn mau als Deutscher in Loudon sich zunächst auf die musikalischen Ein¬ drücke beschränkt, welche mau Abends in den Straßen des fashionablen Westend empfängt, so wird man nicht umhin können, London einen großen Vorzug z. B. vor Berlin zuzugestehen. Gewiß hat Niemand, der je in Berlin gewesen ist, den melancholisch klagenden Ton, die Verstimmung und Gebrechlichkeit zweier Leiern vergessen, die mau an schönen Nachmittagen in dem ersten Hauptgange der linken Seite des Thiergartens nah an einander aufgestellt siudet. Der eine Leiermann spielt: „ich bin ein Preuße", der audere: „Schleswig-Holstein"; und zwischen diesen Beiden zu stehen oder zu gehen, thut einem musikalischen Ohr — und welches Berliner Ohr wäre das nicht? — so weh, daß man wünscht, der gebil¬ dete Polizeistaat möge noch etwas polizeilicher sein, als er ist. Solche Prü¬ fungen erfuhr ich in London uicht. Ich faud die Leiern leidlich rein gestimmt, volltönender und durchdringender, und ein Politiker hätte vielleicht den Schluß gezogen, daß bei einem politisch gebildeten Volke auch der Geschmack des Volles Grcnzvoten. I. 1851. -4

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/37
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/37>, abgerufen am 20.06.2024.