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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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übten. Die Rücksicht für die Dirigenten verhinderte nur allzuoft eine künst¬
lerische Wahl; die ausgewählten Stücke selbst aber wurden wegen Mangel an
hinreichenden Proben nur mittelmäßig executire, so daß die an Besseres Gewöhn¬
ten unbefriedigt blieben, die Uebrigen aber über das Gehörte zu keiner Klarheit
kommen konnten. Der zweite Tag war gewöhnlich für den Wettgesang der
Vereine bestimmt, und dies war der eigentliche Prüfstein der Leistungen. Oft
mußte da der gute Wille für die That genommen werden; oft war die getroffene
Auswahl der für deu Wettgesang bestimmten Lieder sehr schlecht, und die Zu¬
hörermenge erklärte sich nur allzuoft für die trivialsten Leistungen. Seit der so
allgemeinen Verbreitung des Männcrgesauges waren die Componisten zu Hun-
derten aus dem Boden emporgeschossen; fast jeder kleine Ort besaß seinen Arion
und vertheidigte ihn mit der größten Energie. Der Markt wurde mit einer
Masse der liederlichsteil Producte überschwemmt, an denen Alles zu tadeln war:
die schlechte Musik, wie die fehlerhafte Auswahl der Gedichte. Schon Kreutzer
und Marschner hatten zuweilen bei Wahl der Texte viel gewagt, doch bei ihnen
ließ die geschickte musikalische Ausführung bald das Unmnsitalische des Textes
vergessen; aber bei vielen ihrer Nachfolger lassen sich leider keine ähnlichen Gründe
der Entschuldigung finden. Jedes Gedicht, das eben uur aufzutreiben war,
wurde auf dem musikalischen Prokrnstesbete so lange ansgereukt, bis es die Ge¬
stalt eines Mäuuerchores angenommen hatte. Um alle Verirrungen dieser Art
anzuführen, müßte mau Bücher schreiben; hier blos zwei Beispiele, zum Be¬
weise, daß auch die bessern Componisten sich durch dieses Treiben fortreißen lie¬
ßen. Der sonst so treffliche Carl Zöllner componirte für den Männerchor eine
größere Anzahl ans den Müllerliedern von Wilhelm Müller, und Julius
Rich setzte mit großer musikalischer Kunst und vielem Aufwande vou Mitteln die
kleine Dithyrambe von Schiller in eine unendlich lange Cantate für Solo, Chor
und Orchester um. Und das thaten ächte Künstler, vollends die kleinen!

Die größte Rührigkeit unter den Gesangvereinen entwickelte sich in den Jahren
etwa von 1831 bis 47. In den ersten Jahren dieser Periode waltete noch der
harmlose musikalische Charakter vor; späterhin, als die Freiheitspoesien von Her-
wegh, Hoffmann ze. sich der Musik bemächtigt hatten, strebte man nach einer er¬
habenem Physiognomie. Es entstand jetzt wieder eine neue Gattung von Liedern:
die Freiheitsgesäuge, die Deutschlaudslieder, die sich bis in die Mitte des Jahres
48 zu Ballen gehäuft haben. Den Neigen derselben führt an das Nheinlied von
Becker, an dem allein sich mehre Hundert eifriger Komponisten erprobt haben.
Bei so vielen Bestrebungen wurde es dem Einzelnen schwer sich hervorzuthun und
sich in allen Kreisen Deutschlands gleiche Anerkennung zu verschaffen; es giebt des¬
halb jetzt außer einzelnen mächtigen Talenten fast nnr provinzielle Größen: östreichische,
bayerische, sächsische, thüringische Componisten, von denen nnr wenige über die
Marken ihres Landes hinausdrängen. Die bedeutendsten Komponisten, welche diese


übten. Die Rücksicht für die Dirigenten verhinderte nur allzuoft eine künst¬
lerische Wahl; die ausgewählten Stücke selbst aber wurden wegen Mangel an
hinreichenden Proben nur mittelmäßig executire, so daß die an Besseres Gewöhn¬
ten unbefriedigt blieben, die Uebrigen aber über das Gehörte zu keiner Klarheit
kommen konnten. Der zweite Tag war gewöhnlich für den Wettgesang der
Vereine bestimmt, und dies war der eigentliche Prüfstein der Leistungen. Oft
mußte da der gute Wille für die That genommen werden; oft war die getroffene
Auswahl der für deu Wettgesang bestimmten Lieder sehr schlecht, und die Zu¬
hörermenge erklärte sich nur allzuoft für die trivialsten Leistungen. Seit der so
allgemeinen Verbreitung des Männcrgesauges waren die Componisten zu Hun-
derten aus dem Boden emporgeschossen; fast jeder kleine Ort besaß seinen Arion
und vertheidigte ihn mit der größten Energie. Der Markt wurde mit einer
Masse der liederlichsteil Producte überschwemmt, an denen Alles zu tadeln war:
die schlechte Musik, wie die fehlerhafte Auswahl der Gedichte. Schon Kreutzer
und Marschner hatten zuweilen bei Wahl der Texte viel gewagt, doch bei ihnen
ließ die geschickte musikalische Ausführung bald das Unmnsitalische des Textes
vergessen; aber bei vielen ihrer Nachfolger lassen sich leider keine ähnlichen Gründe
der Entschuldigung finden. Jedes Gedicht, das eben uur aufzutreiben war,
wurde auf dem musikalischen Prokrnstesbete so lange ansgereukt, bis es die Ge¬
stalt eines Mäuuerchores angenommen hatte. Um alle Verirrungen dieser Art
anzuführen, müßte mau Bücher schreiben; hier blos zwei Beispiele, zum Be¬
weise, daß auch die bessern Componisten sich durch dieses Treiben fortreißen lie¬
ßen. Der sonst so treffliche Carl Zöllner componirte für den Männerchor eine
größere Anzahl ans den Müllerliedern von Wilhelm Müller, und Julius
Rich setzte mit großer musikalischer Kunst und vielem Aufwande vou Mitteln die
kleine Dithyrambe von Schiller in eine unendlich lange Cantate für Solo, Chor
und Orchester um. Und das thaten ächte Künstler, vollends die kleinen!

Die größte Rührigkeit unter den Gesangvereinen entwickelte sich in den Jahren
etwa von 1831 bis 47. In den ersten Jahren dieser Periode waltete noch der
harmlose musikalische Charakter vor; späterhin, als die Freiheitspoesien von Her-
wegh, Hoffmann ze. sich der Musik bemächtigt hatten, strebte man nach einer er¬
habenem Physiognomie. Es entstand jetzt wieder eine neue Gattung von Liedern:
die Freiheitsgesäuge, die Deutschlaudslieder, die sich bis in die Mitte des Jahres
48 zu Ballen gehäuft haben. Den Neigen derselben führt an das Nheinlied von
Becker, an dem allein sich mehre Hundert eifriger Komponisten erprobt haben.
Bei so vielen Bestrebungen wurde es dem Einzelnen schwer sich hervorzuthun und
sich in allen Kreisen Deutschlands gleiche Anerkennung zu verschaffen; es giebt des¬
halb jetzt außer einzelnen mächtigen Talenten fast nnr provinzielle Größen: östreichische,
bayerische, sächsische, thüringische Componisten, von denen nnr wenige über die
Marken ihres Landes hinausdrängen. Die bedeutendsten Komponisten, welche diese


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/353>, abgerufen am 24.07.2024.