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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Periode charakterisiren, sind unstreitig Carl Zöllner und der weit jüngere
Julius Otto; alle Beide bedeutende Talente, aber Beide nur zu sehr geneigt,
dem dilettantistrenden Haufen zu Gefallen zu leben. Zöllner nahm den vortreff¬
lichsten Anlauf; seine ersten Lieder aus der ernstern Zeit stehen den besten Männer¬
chören zur Seite, sein humoristisches Talent, das Anfangs weniger mit kleinlichen
Witzeleien spielte, erregte großes Aufsehen. Julius Otto hat sich jetzt unstrei¬
tig der größten Theilnahme zu erfreuen; wie lange, wird die Zeit lehren. Große
künstlerische Ansprüche scheint er nicht zu machen; er schreibt nur zu oft für die Masse,
uicht für das Volk. In seiner Richtung gehen unzähliche Andere. Es ist unglaublich,
welche Mittel jetzt angewendet werden, um den Beifall der großen Menge zu
erHaschen, da es nicht mehr möglich ist, durch ernste Gesänge die Aufmerksamkeit
zu erregen. Nicht blos die Texte werden auf unverantwortliche Weise zubereitet;
auch die Behandlung der Singstimmen ist über das Maß hinausgegangen, das
die Natur augewiesen hat, und so ist die Klage wirklich gerechtfertigt, daß
der Mäuuergesaug unsre besten Stimmen, namentlich die Tenore ruinirt. Wir
sind leider in Deutschland schou auf dem Punkte, keine Tenore mehr zu besitzen;
die hohen Stimmungen, die wenige Rücksicht der Componisten auf die wirkliche
Lage der Stimme, vor Allem aber das Singen der Chöre, deren Tenore immer
in den höheren Lagen bleiben, das unausgesetzte Fistuliren -- das Publicum hat
nämlich unendliches Gefallen an Jodlerstückchen -- alle diese Umstände tragen dazu
bei, uns zwar recht viele Stimmen, aber ebenso unbedeutende zu erzeugen.

Während so der Männergesang in die Breite ging und sich verflachte, fehlte
es doch nicht an großen Talenten und würdiger Haltung, welche die moderne
Kunst im besten Sinne des Wortes vertraten. Unter den Bessern unserer Zeit
nenne ich hier nur Drei. Die Kompositionen Mendelssohn's, Schumann's
und G abe's sür den Männergesang siud nicht allein in Beziehung auf das Lied, son¬
dern auch in den höhern Kunstformen ein hoher Fortschritt, zum Theil ein Kampf
künstlerischen Ernstes gegen die überhandnehmende Verflachung. Besonders Men¬
delssohn hat viel Großartiges geschaffen. Wie überall, ist er auch hier klar und
edel, und seine Benutzung der Kunstmittel ist sowohl vom ästhetischer: als tech¬
nischen Standpunkte aus gerechtfertigt. Hierin steht ihm Gabe zur Seite, obwohl
seine Schwäche in Erfindung von schlagenden Melodieen ihm hinderlich ist. Schu¬
mann leidet auch hier an seinem Fehler, an der allzugeringen Rücksicht auf die
Kunstmittel, die bei dem Männerchore wegen ihrer Unzulänglichkeit gerade am
meisten zu berücksichtigen sind.

Ueber die Stellung des Männerchores in der Oper, über das Verhältniß
desselben zum Orchester, wie es besonders durch Meyerbeer geschaffen und durch
die neuern Componisten theilweise fortgebildet wurde, soll bei einer Charakteri-
sirung der Opern der Neuzeit und Meyerbeer's insbesondere die Rede sein.




Periode charakterisiren, sind unstreitig Carl Zöllner und der weit jüngere
Julius Otto; alle Beide bedeutende Talente, aber Beide nur zu sehr geneigt,
dem dilettantistrenden Haufen zu Gefallen zu leben. Zöllner nahm den vortreff¬
lichsten Anlauf; seine ersten Lieder aus der ernstern Zeit stehen den besten Männer¬
chören zur Seite, sein humoristisches Talent, das Anfangs weniger mit kleinlichen
Witzeleien spielte, erregte großes Aufsehen. Julius Otto hat sich jetzt unstrei¬
tig der größten Theilnahme zu erfreuen; wie lange, wird die Zeit lehren. Große
künstlerische Ansprüche scheint er nicht zu machen; er schreibt nur zu oft für die Masse,
uicht für das Volk. In seiner Richtung gehen unzähliche Andere. Es ist unglaublich,
welche Mittel jetzt angewendet werden, um den Beifall der großen Menge zu
erHaschen, da es nicht mehr möglich ist, durch ernste Gesänge die Aufmerksamkeit
zu erregen. Nicht blos die Texte werden auf unverantwortliche Weise zubereitet;
auch die Behandlung der Singstimmen ist über das Maß hinausgegangen, das
die Natur augewiesen hat, und so ist die Klage wirklich gerechtfertigt, daß
der Mäuuergesaug unsre besten Stimmen, namentlich die Tenore ruinirt. Wir
sind leider in Deutschland schou auf dem Punkte, keine Tenore mehr zu besitzen;
die hohen Stimmungen, die wenige Rücksicht der Componisten auf die wirkliche
Lage der Stimme, vor Allem aber das Singen der Chöre, deren Tenore immer
in den höheren Lagen bleiben, das unausgesetzte Fistuliren — das Publicum hat
nämlich unendliches Gefallen an Jodlerstückchen — alle diese Umstände tragen dazu
bei, uns zwar recht viele Stimmen, aber ebenso unbedeutende zu erzeugen.

Während so der Männergesang in die Breite ging und sich verflachte, fehlte
es doch nicht an großen Talenten und würdiger Haltung, welche die moderne
Kunst im besten Sinne des Wortes vertraten. Unter den Bessern unserer Zeit
nenne ich hier nur Drei. Die Kompositionen Mendelssohn's, Schumann's
und G abe's sür den Männergesang siud nicht allein in Beziehung auf das Lied, son¬
dern auch in den höhern Kunstformen ein hoher Fortschritt, zum Theil ein Kampf
künstlerischen Ernstes gegen die überhandnehmende Verflachung. Besonders Men¬
delssohn hat viel Großartiges geschaffen. Wie überall, ist er auch hier klar und
edel, und seine Benutzung der Kunstmittel ist sowohl vom ästhetischer: als tech¬
nischen Standpunkte aus gerechtfertigt. Hierin steht ihm Gabe zur Seite, obwohl
seine Schwäche in Erfindung von schlagenden Melodieen ihm hinderlich ist. Schu¬
mann leidet auch hier an seinem Fehler, an der allzugeringen Rücksicht auf die
Kunstmittel, die bei dem Männerchore wegen ihrer Unzulänglichkeit gerade am
meisten zu berücksichtigen sind.

Ueber die Stellung des Männerchores in der Oper, über das Verhältniß
desselben zum Orchester, wie es besonders durch Meyerbeer geschaffen und durch
die neuern Componisten theilweise fortgebildet wurde, soll bei einer Charakteri-
sirung der Opern der Neuzeit und Meyerbeer's insbesondere die Rede sein.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/354>, abgerufen am 28.06.2024.