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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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wirklicher Selbständigkeit, die untern Stimmen gehorsame, unterwürfige Be¬
gleiter. So entsprachen diese Gesänge den ihnen untergelegten Texten, die uns
jetzt in ihrer Einfachheit fast rühren, aber anch ein leichtes Lächeln ans die
Lippe locken.

In dieser Art und Weise bewegte sich lange Zeit, etwa bis zur Zeit der
Freiheitskriege, der Männerfang, und es ist hier nicht nöthig, dieser Periode
größere Aufmerksamkeit zuzuwenden, da sie für die höhere Kunstgeschichte keine
Resultate geliefert hat. Die Zahl der Komponisten, welche ihr Augenmerk auf
ihn richteten, war zwar keine geringe, anch die hervorragenden Männer jener
Zeit beachten ihn; aber die Contpositionen sind fast alle vergessen, und die da¬
mals gemachten Versuche spielen in der Kunstgeschichte des Jahrhunderts die
schwächste Rolle. Zwei Männer sind es, von denen die wesentlichste Förderung
kam: Theodor Körner, der begeisterte Freiheitssäuger, und sein gleich
edler Componist, Carl Maria von Weber. In jenen Tagen erlitt das
deutsche Philisterthum den ersten heftigen Stoß; damals ertönte die erste Volks¬
musik in den deutschen Gauen. Die Gedichte sind ein Ausfluß jener großen Zeit,
und die Melodieen tragen so volksthümlich edle Elemente in sich, daß sie für alle
Zeiten in diesem Genre zum Muster dienen werden.

Zum erstenmal wird der Männergcsang denk kleinen beengenden Kreise des
Hauses entrückt, zum erstenmal nimmt das Volk sich seiner an und führt ihn dem
hohen, würdigsten Zwecke entgegen. Der von dem Dichter und Componisten
ausgestreute Same ging nicht verloren; zahlreiche Nachahmer bemächtigten sich des
gleichen Stoffes. Die Literatur des Mäuuergesangs jener Zeit bietet reiche Samm-
lungen ähnlicher deutscher Kriegslieder; sie erschienen so lange, als der Enthusiasmus
noch uicht verraucht war. Das für die Kunst gewonnene Resultat aber wurde
ein bleibendes, indem man die dnrch die Praxis gewonnenen Erfahrungen als
Grundlage zu weiterer Ausbildung des Männergesanges benutzte. Ein wesent¬
lich günstiger Umstand war, daß man bei der allgemeinen Sorgfalt, welche von
dem Staate dem Volksschulwesen zu Theil wurde, besouders darauf draug, den
Gesangunterricht als ersprießliches Bildungsmittel einzuführen. Die ersten
Anregungen dazu gab der berühmte Nägeli in Zürich, der, die Kunst ganz vom
Pädagogischen Staudpunkte betrachtend, in Zürich eine Gesangschnle gestiftet
hatte. Die in der Jngend gelegte solide musikalische Grundlage hatte den Zög¬
lingen dieser Schule deu Gesaug zum Lebensbedürfniß gemacht und so geschah
es, daß sich später unter den Erwachsenen Vereine bildeten, ans deren zeitwei¬
ligen Zusammentreten späterhin die so berühmten Schweizer Musikfeste entstan¬
den. Nägeli hat eine fast unermeßliche Sammlung von allerhand Liedern für
gemischten Chor, wie für den Männergesang herausgegeben, die in der Schweiz
noch heute verbreitet siud, und unendlich viel 'zur musikalischen Bildung dieses
Volkes beigetragen hahen. Nur wenige Lieder ans diesen Sammlungen haben


Grenzvoten. I. 1851. 43

wirklicher Selbständigkeit, die untern Stimmen gehorsame, unterwürfige Be¬
gleiter. So entsprachen diese Gesänge den ihnen untergelegten Texten, die uns
jetzt in ihrer Einfachheit fast rühren, aber anch ein leichtes Lächeln ans die
Lippe locken.

In dieser Art und Weise bewegte sich lange Zeit, etwa bis zur Zeit der
Freiheitskriege, der Männerfang, und es ist hier nicht nöthig, dieser Periode
größere Aufmerksamkeit zuzuwenden, da sie für die höhere Kunstgeschichte keine
Resultate geliefert hat. Die Zahl der Komponisten, welche ihr Augenmerk auf
ihn richteten, war zwar keine geringe, anch die hervorragenden Männer jener
Zeit beachten ihn; aber die Contpositionen sind fast alle vergessen, und die da¬
mals gemachten Versuche spielen in der Kunstgeschichte des Jahrhunderts die
schwächste Rolle. Zwei Männer sind es, von denen die wesentlichste Förderung
kam: Theodor Körner, der begeisterte Freiheitssäuger, und sein gleich
edler Componist, Carl Maria von Weber. In jenen Tagen erlitt das
deutsche Philisterthum den ersten heftigen Stoß; damals ertönte die erste Volks¬
musik in den deutschen Gauen. Die Gedichte sind ein Ausfluß jener großen Zeit,
und die Melodieen tragen so volksthümlich edle Elemente in sich, daß sie für alle
Zeiten in diesem Genre zum Muster dienen werden.

Zum erstenmal wird der Männergcsang denk kleinen beengenden Kreise des
Hauses entrückt, zum erstenmal nimmt das Volk sich seiner an und führt ihn dem
hohen, würdigsten Zwecke entgegen. Der von dem Dichter und Componisten
ausgestreute Same ging nicht verloren; zahlreiche Nachahmer bemächtigten sich des
gleichen Stoffes. Die Literatur des Mäuuergesangs jener Zeit bietet reiche Samm-
lungen ähnlicher deutscher Kriegslieder; sie erschienen so lange, als der Enthusiasmus
noch uicht verraucht war. Das für die Kunst gewonnene Resultat aber wurde
ein bleibendes, indem man die dnrch die Praxis gewonnenen Erfahrungen als
Grundlage zu weiterer Ausbildung des Männergesanges benutzte. Ein wesent¬
lich günstiger Umstand war, daß man bei der allgemeinen Sorgfalt, welche von
dem Staate dem Volksschulwesen zu Theil wurde, besouders darauf draug, den
Gesangunterricht als ersprießliches Bildungsmittel einzuführen. Die ersten
Anregungen dazu gab der berühmte Nägeli in Zürich, der, die Kunst ganz vom
Pädagogischen Staudpunkte betrachtend, in Zürich eine Gesangschnle gestiftet
hatte. Die in der Jngend gelegte solide musikalische Grundlage hatte den Zög¬
lingen dieser Schule deu Gesaug zum Lebensbedürfniß gemacht und so geschah
es, daß sich später unter den Erwachsenen Vereine bildeten, ans deren zeitwei¬
ligen Zusammentreten späterhin die so berühmten Schweizer Musikfeste entstan¬
den. Nägeli hat eine fast unermeßliche Sammlung von allerhand Liedern für
gemischten Chor, wie für den Männergesang herausgegeben, die in der Schweiz
noch heute verbreitet siud, und unendlich viel 'zur musikalischen Bildung dieses
Volkes beigetragen hahen. Nur wenige Lieder ans diesen Sammlungen haben


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[0349] wirklicher Selbständigkeit, die untern Stimmen gehorsame, unterwürfige Be¬ gleiter. So entsprachen diese Gesänge den ihnen untergelegten Texten, die uns jetzt in ihrer Einfachheit fast rühren, aber anch ein leichtes Lächeln ans die Lippe locken. In dieser Art und Weise bewegte sich lange Zeit, etwa bis zur Zeit der Freiheitskriege, der Männerfang, und es ist hier nicht nöthig, dieser Periode größere Aufmerksamkeit zuzuwenden, da sie für die höhere Kunstgeschichte keine Resultate geliefert hat. Die Zahl der Komponisten, welche ihr Augenmerk auf ihn richteten, war zwar keine geringe, anch die hervorragenden Männer jener Zeit beachten ihn; aber die Contpositionen sind fast alle vergessen, und die da¬ mals gemachten Versuche spielen in der Kunstgeschichte des Jahrhunderts die schwächste Rolle. Zwei Männer sind es, von denen die wesentlichste Förderung kam: Theodor Körner, der begeisterte Freiheitssäuger, und sein gleich edler Componist, Carl Maria von Weber. In jenen Tagen erlitt das deutsche Philisterthum den ersten heftigen Stoß; damals ertönte die erste Volks¬ musik in den deutschen Gauen. Die Gedichte sind ein Ausfluß jener großen Zeit, und die Melodieen tragen so volksthümlich edle Elemente in sich, daß sie für alle Zeiten in diesem Genre zum Muster dienen werden. Zum erstenmal wird der Männergcsang denk kleinen beengenden Kreise des Hauses entrückt, zum erstenmal nimmt das Volk sich seiner an und führt ihn dem hohen, würdigsten Zwecke entgegen. Der von dem Dichter und Componisten ausgestreute Same ging nicht verloren; zahlreiche Nachahmer bemächtigten sich des gleichen Stoffes. Die Literatur des Mäuuergesangs jener Zeit bietet reiche Samm- lungen ähnlicher deutscher Kriegslieder; sie erschienen so lange, als der Enthusiasmus noch uicht verraucht war. Das für die Kunst gewonnene Resultat aber wurde ein bleibendes, indem man die dnrch die Praxis gewonnenen Erfahrungen als Grundlage zu weiterer Ausbildung des Männergesanges benutzte. Ein wesent¬ lich günstiger Umstand war, daß man bei der allgemeinen Sorgfalt, welche von dem Staate dem Volksschulwesen zu Theil wurde, besouders darauf draug, den Gesangunterricht als ersprießliches Bildungsmittel einzuführen. Die ersten Anregungen dazu gab der berühmte Nägeli in Zürich, der, die Kunst ganz vom Pädagogischen Staudpunkte betrachtend, in Zürich eine Gesangschnle gestiftet hatte. Die in der Jngend gelegte solide musikalische Grundlage hatte den Zög¬ lingen dieser Schule deu Gesaug zum Lebensbedürfniß gemacht und so geschah es, daß sich später unter den Erwachsenen Vereine bildeten, ans deren zeitwei¬ ligen Zusammentreten späterhin die so berühmten Schweizer Musikfeste entstan¬ den. Nägeli hat eine fast unermeßliche Sammlung von allerhand Liedern für gemischten Chor, wie für den Männergesang herausgegeben, die in der Schweiz noch heute verbreitet siud, und unendlich viel 'zur musikalischen Bildung dieses Volkes beigetragen hahen. Nur wenige Lieder ans diesen Sammlungen haben Grenzvoten. I. 1851. 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/349>, abgerufen am 04.07.2024.