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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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gebrachter Vernachlässigung der Chöre, die von den Zuhörern weniger beachtet
werden, als die Arien und die Ensembles. Daher finden sich in den Opern
der Italiener und Franzosen keine Männerchöre von irgend höherer musikalischer
Bedeutung und nur in deu seltensten Fällen wird das musikalische Motiv dem
Chöre selbst zuertheilt. Dort bat sich die allerdings sehr leichte Praxis nach und
nach festgestellt, daß der Gesang in dem Musikstück nichts weiter als eine dem
jedesmaligen Rythmus angemessene harmonische Ausfüllung bildet, wozu das
Orchester die nöthigen Melodieen spielt.

In der letztvergangenen Zeit, in welcher die Bücher der Opern eine wesent¬
liche Umgestaltung dadurch erfahren haben, daß die Chöre den Hanptträgeru des
sujets gegenüber nicht mehr ganz untergeordnet erscheinen, sondern als selbst¬
ständige und handelnde Masse in den Gang des Dramas eingreifen, hat sich
-- nebenbei bemerkt -- ein anderer noch einfacherer Gebrauch geltend gemacht:
das Unisono der Chorstimmen, wenn es gerade gilt, die Situation dadurch her¬
vorzuheben oder dem Publicum eine Melodie in das Ohr zu werfen, auf welche
der Componist die allgemeine Aufmerksamkeit zu lenken wünscht. Dieser Ge¬
brauch hat zuweilen seine volle Berechtigung, aber er wird wirkungslos und
lächerlich, wenn er zur Unzeit und im Uebermaaß angewendet wird. Sehr
feine und ergreifende Wirkungen hat z. B. Mendelssohn auf diese Weise erzielt,
nicht minder Schumann in dem ersten Theil der Perl in dem Chöre: ,,doch seine
Ströme sind jetzt roth u. s. w."

Die ersten Anfänge des deutschen selbstständigen Männergesaugs hatten nur
den unschuldigen Zweck, anspruchslos zu unterhalten und geselligen Kreisen durch
die einfachsten Mittel ein musikalisches Vergnügen zu bereiten. Die Harmlosig¬
keit dieser ersten Versuche läßt sich am besten durch eine genauere Prüfung der
dazu verwendeten Texte beweisen; es liegt in diesen alleu die naive Gemüthlich¬
keit unsrer guten Vorfahren, die durch die Zeitverhältnisse auf die Unterhaltung
innerhalb ihrer vier Wände gewiesen, für größere Verhältnisse weder Auge noch
Sinn halten. Damals ahnte man noch nicht, welcher mächtige Hebel der Volks¬
bildung sich aus den liebenswürdigen, "charmanter" Stückchen entwickeln würde;
welche das Ohr der Gebildeten erfreute. Denn zu jener Zeit war die Bethei¬
ligung an der Kunst noch ein ausschließliches Privilegium der "gebildeten" Stände.
Als Hauptvertreter dieser gemüthlichen Richtung mag hier Leonhard v. Call
genannt werden, dessen einfache kleine Weisen noch vor funfzehn Jahren im Kreise
älterer Herren gern gesungen wurden. Die Setzweise derselben ist die einfachste
leichte Melodien, die sich nicht weit über das Nivean des Liedes "Freut euch des
Lebens" oder "Es kann ja nicht immer so bleiben", und wie alle die beliebten
Gesellschaftslieder der guten alten Zeit heißen, zu erhebeu wagten; dazu die eiu-
gänglichsten Harmonien, die einzelnen Stimmen in den treffbarsten Intervallen
geschrieben, fast kein veränderter Accord; nnr der melodieführende Tenor von


gebrachter Vernachlässigung der Chöre, die von den Zuhörern weniger beachtet
werden, als die Arien und die Ensembles. Daher finden sich in den Opern
der Italiener und Franzosen keine Männerchöre von irgend höherer musikalischer
Bedeutung und nur in deu seltensten Fällen wird das musikalische Motiv dem
Chöre selbst zuertheilt. Dort bat sich die allerdings sehr leichte Praxis nach und
nach festgestellt, daß der Gesang in dem Musikstück nichts weiter als eine dem
jedesmaligen Rythmus angemessene harmonische Ausfüllung bildet, wozu das
Orchester die nöthigen Melodieen spielt.

In der letztvergangenen Zeit, in welcher die Bücher der Opern eine wesent¬
liche Umgestaltung dadurch erfahren haben, daß die Chöre den Hanptträgeru des
sujets gegenüber nicht mehr ganz untergeordnet erscheinen, sondern als selbst¬
ständige und handelnde Masse in den Gang des Dramas eingreifen, hat sich
— nebenbei bemerkt — ein anderer noch einfacherer Gebrauch geltend gemacht:
das Unisono der Chorstimmen, wenn es gerade gilt, die Situation dadurch her¬
vorzuheben oder dem Publicum eine Melodie in das Ohr zu werfen, auf welche
der Componist die allgemeine Aufmerksamkeit zu lenken wünscht. Dieser Ge¬
brauch hat zuweilen seine volle Berechtigung, aber er wird wirkungslos und
lächerlich, wenn er zur Unzeit und im Uebermaaß angewendet wird. Sehr
feine und ergreifende Wirkungen hat z. B. Mendelssohn auf diese Weise erzielt,
nicht minder Schumann in dem ersten Theil der Perl in dem Chöre: ,,doch seine
Ströme sind jetzt roth u. s. w."

Die ersten Anfänge des deutschen selbstständigen Männergesaugs hatten nur
den unschuldigen Zweck, anspruchslos zu unterhalten und geselligen Kreisen durch
die einfachsten Mittel ein musikalisches Vergnügen zu bereiten. Die Harmlosig¬
keit dieser ersten Versuche läßt sich am besten durch eine genauere Prüfung der
dazu verwendeten Texte beweisen; es liegt in diesen alleu die naive Gemüthlich¬
keit unsrer guten Vorfahren, die durch die Zeitverhältnisse auf die Unterhaltung
innerhalb ihrer vier Wände gewiesen, für größere Verhältnisse weder Auge noch
Sinn halten. Damals ahnte man noch nicht, welcher mächtige Hebel der Volks¬
bildung sich aus den liebenswürdigen, „charmanter" Stückchen entwickeln würde;
welche das Ohr der Gebildeten erfreute. Denn zu jener Zeit war die Bethei¬
ligung an der Kunst noch ein ausschließliches Privilegium der „gebildeten" Stände.
Als Hauptvertreter dieser gemüthlichen Richtung mag hier Leonhard v. Call
genannt werden, dessen einfache kleine Weisen noch vor funfzehn Jahren im Kreise
älterer Herren gern gesungen wurden. Die Setzweise derselben ist die einfachste
leichte Melodien, die sich nicht weit über das Nivean des Liedes „Freut euch des
Lebens" oder „Es kann ja nicht immer so bleiben", und wie alle die beliebten
Gesellschaftslieder der guten alten Zeit heißen, zu erhebeu wagten; dazu die eiu-
gänglichsten Harmonien, die einzelnen Stimmen in den treffbarsten Intervallen
geschrieben, fast kein veränderter Accord; nnr der melodieführende Tenor von


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[0348] gebrachter Vernachlässigung der Chöre, die von den Zuhörern weniger beachtet werden, als die Arien und die Ensembles. Daher finden sich in den Opern der Italiener und Franzosen keine Männerchöre von irgend höherer musikalischer Bedeutung und nur in deu seltensten Fällen wird das musikalische Motiv dem Chöre selbst zuertheilt. Dort bat sich die allerdings sehr leichte Praxis nach und nach festgestellt, daß der Gesang in dem Musikstück nichts weiter als eine dem jedesmaligen Rythmus angemessene harmonische Ausfüllung bildet, wozu das Orchester die nöthigen Melodieen spielt. In der letztvergangenen Zeit, in welcher die Bücher der Opern eine wesent¬ liche Umgestaltung dadurch erfahren haben, daß die Chöre den Hanptträgeru des sujets gegenüber nicht mehr ganz untergeordnet erscheinen, sondern als selbst¬ ständige und handelnde Masse in den Gang des Dramas eingreifen, hat sich — nebenbei bemerkt — ein anderer noch einfacherer Gebrauch geltend gemacht: das Unisono der Chorstimmen, wenn es gerade gilt, die Situation dadurch her¬ vorzuheben oder dem Publicum eine Melodie in das Ohr zu werfen, auf welche der Componist die allgemeine Aufmerksamkeit zu lenken wünscht. Dieser Ge¬ brauch hat zuweilen seine volle Berechtigung, aber er wird wirkungslos und lächerlich, wenn er zur Unzeit und im Uebermaaß angewendet wird. Sehr feine und ergreifende Wirkungen hat z. B. Mendelssohn auf diese Weise erzielt, nicht minder Schumann in dem ersten Theil der Perl in dem Chöre: ,,doch seine Ströme sind jetzt roth u. s. w." Die ersten Anfänge des deutschen selbstständigen Männergesaugs hatten nur den unschuldigen Zweck, anspruchslos zu unterhalten und geselligen Kreisen durch die einfachsten Mittel ein musikalisches Vergnügen zu bereiten. Die Harmlosig¬ keit dieser ersten Versuche läßt sich am besten durch eine genauere Prüfung der dazu verwendeten Texte beweisen; es liegt in diesen alleu die naive Gemüthlich¬ keit unsrer guten Vorfahren, die durch die Zeitverhältnisse auf die Unterhaltung innerhalb ihrer vier Wände gewiesen, für größere Verhältnisse weder Auge noch Sinn halten. Damals ahnte man noch nicht, welcher mächtige Hebel der Volks¬ bildung sich aus den liebenswürdigen, „charmanter" Stückchen entwickeln würde; welche das Ohr der Gebildeten erfreute. Denn zu jener Zeit war die Bethei¬ ligung an der Kunst noch ein ausschließliches Privilegium der „gebildeten" Stände. Als Hauptvertreter dieser gemüthlichen Richtung mag hier Leonhard v. Call genannt werden, dessen einfache kleine Weisen noch vor funfzehn Jahren im Kreise älterer Herren gern gesungen wurden. Die Setzweise derselben ist die einfachste leichte Melodien, die sich nicht weit über das Nivean des Liedes „Freut euch des Lebens" oder „Es kann ja nicht immer so bleiben", und wie alle die beliebten Gesellschaftslieder der guten alten Zeit heißen, zu erhebeu wagten; dazu die eiu- gänglichsten Harmonien, die einzelnen Stimmen in den treffbarsten Intervallen geschrieben, fast kein veränderter Accord; nnr der melodieführende Tenor von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/348>, abgerufen am 28.06.2024.