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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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vor Gott, als das Gesch der gesellschaftlichen Ehe es gegenwärtig in den
Augen der Menschen ist. (!)"

Ich glaubte aus diesem Buch darum Einiges von den Doctrinen mittheilen
zu müssen, weil es eigentlich nur ans Doctrinen besteht. Auch das wenige
Novellistische, das wir dazwischen antreffen, hat eine doctrinäre Färbung. --
Lelia's Geschichte ist die Geschichte eiues unglücklichen Herzens, verirrt durch
einen eitlen Reichthum an Fähigkeiten, verwelkt, ehe es gelebt hatte, verzehrt
durch ewiges Hoffen, und " vielleicht durch zuviel Kraft unkräftig geworden."
Sie hatte nur Gefühl für das Unerreichbare, nie für eine bestimmte Form.
Jede Wirklichkeit verletzte ihre zu lebhaften Begriffe, zerstörte ihre zu Viel ver-
langende Hoffnung. In der Erschöpfung ewig wechselnder Liebessehnsucht geht
sie ius Kloster; zwischen wilder, leidenschaftlicher AnSichtsübnng und verzweifeln¬
den Unglauben getheilt, beleidigt sie in Beidem durch ihre Excentrizität die Gläu¬
bigen. Sie kehrt in die Welt zurück, mit dem Gefühl, daß Alles eitel sei; sie
ist schneidend kalt gegen die Männer, die sie anbeten. Ein Priester wird darüber
verrückt; als sie in einer schweren Krankheit liegt, wagt er es nicht, ihr die
Absolution zu ertheilen; er läßt die Monstranz vor ihrem höhnischen Blick sin¬
ken, und ruft aus: "Du bist mehr als Gott." Als mau sie fragt, ob sie an Gott
glaube, antwortet sie: "?resciue torrjoru^!" Sie spielt mit einem jungen, unschul¬
digen Dichter wie der Geier mit seiner Beute; sie will deu männlichen Theil
in der Liebe übernehmen, wie es Genz von der Nadel verlangt. Sie küßt und
liebkost ihn; wenn er aber diese Liebkosung erwiedern will, so stößt sie ihn zurück.
Was mau im gemeinen Leben Coquetterie nennt. Ihre Schwester räth ihr,
Courtisaune zu werdeu. "Begreifst Du nicht, daß um sich der Macht der öffent¬
lichen Meinung, vor der die sogenannten anständigen Leute so servil sind, zu un¬
terwerfen, man nur schwach sein darf; daß man aber stark sein muß, um ihr zu
widerstehen? Nennst Du eine so leichte Berechnung des Egoismus, wobei Dich
noch Alles ermuntert und belehrt, eine Tugend?" Sie denkt auch ernsthaft
darüber nach, findet aber doch, daß sie für diese Rolle zu wenig Frische hat.
Dagegen will sie jenen jungen Dichter aus seinen Illusionen erlösen; sie ver¬
spricht ihm eine Schäferstunde, und schiebt an ihre Stelle Pulcheria uuter. Da¬
durch werden ihn: zwar alle Illusionen der Liebe genommen, aber auch zugleich
aller Reiz des Lebens; er wird noch kälter, spöttischer und blasirter, als sie selbst,
aber er stürzt sich in die greulichsten Orgien, um sich zu morden, und geht in
den abscheulichsten Blasphemieu uuter. Lelia selbst wird zuletzt durch deu wahn¬
sinnigen Priester erwürgt, aber ohne ihre Schuld zu bekennen.

Das ist Alles sehr ekelhaft, und hat auch wohl allgemein mehr Abscheu als
Bewunderung erregt. Wenn aber die Verehrer der Dichterin sie damit entschul¬
digen, daß das Buch nur das Ergebniß eines schrecklichen Seelenzustandes sein
könne, so kann ich das nicht ganz gelten lassen, es ist zu viel Coquetterie darin.


vor Gott, als das Gesch der gesellschaftlichen Ehe es gegenwärtig in den
Augen der Menschen ist. (!)"

Ich glaubte aus diesem Buch darum Einiges von den Doctrinen mittheilen
zu müssen, weil es eigentlich nur ans Doctrinen besteht. Auch das wenige
Novellistische, das wir dazwischen antreffen, hat eine doctrinäre Färbung. —
Lelia's Geschichte ist die Geschichte eiues unglücklichen Herzens, verirrt durch
einen eitlen Reichthum an Fähigkeiten, verwelkt, ehe es gelebt hatte, verzehrt
durch ewiges Hoffen, und „ vielleicht durch zuviel Kraft unkräftig geworden."
Sie hatte nur Gefühl für das Unerreichbare, nie für eine bestimmte Form.
Jede Wirklichkeit verletzte ihre zu lebhaften Begriffe, zerstörte ihre zu Viel ver-
langende Hoffnung. In der Erschöpfung ewig wechselnder Liebessehnsucht geht
sie ius Kloster; zwischen wilder, leidenschaftlicher AnSichtsübnng und verzweifeln¬
den Unglauben getheilt, beleidigt sie in Beidem durch ihre Excentrizität die Gläu¬
bigen. Sie kehrt in die Welt zurück, mit dem Gefühl, daß Alles eitel sei; sie
ist schneidend kalt gegen die Männer, die sie anbeten. Ein Priester wird darüber
verrückt; als sie in einer schweren Krankheit liegt, wagt er es nicht, ihr die
Absolution zu ertheilen; er läßt die Monstranz vor ihrem höhnischen Blick sin¬
ken, und ruft aus: „Du bist mehr als Gott." Als mau sie fragt, ob sie an Gott
glaube, antwortet sie: „?resciue torrjoru^!" Sie spielt mit einem jungen, unschul¬
digen Dichter wie der Geier mit seiner Beute; sie will deu männlichen Theil
in der Liebe übernehmen, wie es Genz von der Nadel verlangt. Sie küßt und
liebkost ihn; wenn er aber diese Liebkosung erwiedern will, so stößt sie ihn zurück.
Was mau im gemeinen Leben Coquetterie nennt. Ihre Schwester räth ihr,
Courtisaune zu werdeu. „Begreifst Du nicht, daß um sich der Macht der öffent¬
lichen Meinung, vor der die sogenannten anständigen Leute so servil sind, zu un¬
terwerfen, man nur schwach sein darf; daß man aber stark sein muß, um ihr zu
widerstehen? Nennst Du eine so leichte Berechnung des Egoismus, wobei Dich
noch Alles ermuntert und belehrt, eine Tugend?" Sie denkt auch ernsthaft
darüber nach, findet aber doch, daß sie für diese Rolle zu wenig Frische hat.
Dagegen will sie jenen jungen Dichter aus seinen Illusionen erlösen; sie ver¬
spricht ihm eine Schäferstunde, und schiebt an ihre Stelle Pulcheria uuter. Da¬
durch werden ihn: zwar alle Illusionen der Liebe genommen, aber auch zugleich
aller Reiz des Lebens; er wird noch kälter, spöttischer und blasirter, als sie selbst,
aber er stürzt sich in die greulichsten Orgien, um sich zu morden, und geht in
den abscheulichsten Blasphemieu uuter. Lelia selbst wird zuletzt durch deu wahn¬
sinnigen Priester erwürgt, aber ohne ihre Schuld zu bekennen.

Das ist Alles sehr ekelhaft, und hat auch wohl allgemein mehr Abscheu als
Bewunderung erregt. Wenn aber die Verehrer der Dichterin sie damit entschul¬
digen, daß das Buch nur das Ergebniß eines schrecklichen Seelenzustandes sein
könne, so kann ich das nicht ganz gelten lassen, es ist zu viel Coquetterie darin.


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[0344] vor Gott, als das Gesch der gesellschaftlichen Ehe es gegenwärtig in den Augen der Menschen ist. (!)" Ich glaubte aus diesem Buch darum Einiges von den Doctrinen mittheilen zu müssen, weil es eigentlich nur ans Doctrinen besteht. Auch das wenige Novellistische, das wir dazwischen antreffen, hat eine doctrinäre Färbung. — Lelia's Geschichte ist die Geschichte eiues unglücklichen Herzens, verirrt durch einen eitlen Reichthum an Fähigkeiten, verwelkt, ehe es gelebt hatte, verzehrt durch ewiges Hoffen, und „ vielleicht durch zuviel Kraft unkräftig geworden." Sie hatte nur Gefühl für das Unerreichbare, nie für eine bestimmte Form. Jede Wirklichkeit verletzte ihre zu lebhaften Begriffe, zerstörte ihre zu Viel ver- langende Hoffnung. In der Erschöpfung ewig wechselnder Liebessehnsucht geht sie ius Kloster; zwischen wilder, leidenschaftlicher AnSichtsübnng und verzweifeln¬ den Unglauben getheilt, beleidigt sie in Beidem durch ihre Excentrizität die Gläu¬ bigen. Sie kehrt in die Welt zurück, mit dem Gefühl, daß Alles eitel sei; sie ist schneidend kalt gegen die Männer, die sie anbeten. Ein Priester wird darüber verrückt; als sie in einer schweren Krankheit liegt, wagt er es nicht, ihr die Absolution zu ertheilen; er läßt die Monstranz vor ihrem höhnischen Blick sin¬ ken, und ruft aus: „Du bist mehr als Gott." Als mau sie fragt, ob sie an Gott glaube, antwortet sie: „?resciue torrjoru^!" Sie spielt mit einem jungen, unschul¬ digen Dichter wie der Geier mit seiner Beute; sie will deu männlichen Theil in der Liebe übernehmen, wie es Genz von der Nadel verlangt. Sie küßt und liebkost ihn; wenn er aber diese Liebkosung erwiedern will, so stößt sie ihn zurück. Was mau im gemeinen Leben Coquetterie nennt. Ihre Schwester räth ihr, Courtisaune zu werdeu. „Begreifst Du nicht, daß um sich der Macht der öffent¬ lichen Meinung, vor der die sogenannten anständigen Leute so servil sind, zu un¬ terwerfen, man nur schwach sein darf; daß man aber stark sein muß, um ihr zu widerstehen? Nennst Du eine so leichte Berechnung des Egoismus, wobei Dich noch Alles ermuntert und belehrt, eine Tugend?" Sie denkt auch ernsthaft darüber nach, findet aber doch, daß sie für diese Rolle zu wenig Frische hat. Dagegen will sie jenen jungen Dichter aus seinen Illusionen erlösen; sie ver¬ spricht ihm eine Schäferstunde, und schiebt an ihre Stelle Pulcheria uuter. Da¬ durch werden ihn: zwar alle Illusionen der Liebe genommen, aber auch zugleich aller Reiz des Lebens; er wird noch kälter, spöttischer und blasirter, als sie selbst, aber er stürzt sich in die greulichsten Orgien, um sich zu morden, und geht in den abscheulichsten Blasphemieu uuter. Lelia selbst wird zuletzt durch deu wahn¬ sinnigen Priester erwürgt, aber ohne ihre Schuld zu bekennen. Das ist Alles sehr ekelhaft, und hat auch wohl allgemein mehr Abscheu als Bewunderung erregt. Wenn aber die Verehrer der Dichterin sie damit entschul¬ digen, daß das Buch nur das Ergebniß eines schrecklichen Seelenzustandes sein könne, so kann ich das nicht ganz gelten lassen, es ist zu viel Coquetterie darin.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/344>, abgerufen am 28.06.2024.