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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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eine höchst unbequeme Seereise, wenn es zur Selbstmord geht. Dort erklimmen
sie einen Pie, um sich bei schönem Mondschein in den Wasserfall von Bernina
zu stürzen, den Schauplatz ihrer Kinderspiele. Sie springen mich, nachdem er
zu ihren Füßen seine glühende Liebe gestanden, sie springen -- aber sie fallen
nicht. Es geschieht ein Mirakel; sie leben noch heute wie Täubchen in stiller
Zurückgezogenheit in ihrem Eldorado am Wasserfall zu Bernina, wie Bernardin'ö
Paria in der indischen Hütte, wie Heinse's Ardinghello in dem idyllischen Piraten¬
leben auf den glückseligen Inseln. Sie gründen ihre ideale Welt, indem sie
der wirklichen "Welt entfliehen -- nicht zur Buße ihrer Schuld, sondern in dem
Dünkel, die Welt sei zu schlecht für ihr naives und tiefbewegtes Herz.

Ein ebenso sentimentaler als unsittlicher Schluß. -- Wenn trotzdem die
Jndiane vou vielen Verehrern der Dichterin für das beste ihrer Werke gehalten
wird, so liegt das theils in der leidenschaftlichen und doch graziösen Darstellung,
hauptsächlich aber darin, daß die umgekehrte Weltordnung, welche die neue Poesie
eröffnet, in diesem Roman am wenigsten durch anderweitige Züge verwischt wird,
welche nicht ans der Tendenz hervorgehen. Je einfacher und roher das Evan¬
gelium, ein desto erquicklicherer Trank für die durstigen Seelen, die sich nach
ihm sehnen.

Es ist das anch der Grund, warum ich mich bei dieser ersten Tendenz¬
geschichte so lauge aufgehalten habe. Ich gehe nun zur Valeutine über.

Benedict, der eigentliche Held, ist ans einer Bauernfamilie hervorgegangen,
hat aber die moderne Bildung in sich ausgenommen; er hat allerlei getrieben,
aber keine gründliche Kenntniß in irgend einem Fach gewonnen. Er ist ein
hochmüthiger Nichtsthuer, der sich vou eiuer reichen Bauernfamilie erhalten läßt,
die Pflicht der Dankbarkeit gegen dieselbe aber nur als Qual empfindet; denn
er kann seine Ironie über ihre lächerlichen Manieren nicht unterdrücken. Er
empfindet eine souveräne Verachtung gegen die Thätigkeit der civilisirten Welt:
" -- bei dem jetzigen Zustand der Gesellschaft wäre das beste Ergebniß der
Erziehung, die mau uns giebt, das, freiwillig in den Zustand der Wildheit
zurückzukehren... In dieser bis an die Wurzel vermoderten Civilisation soll ich
Bürger werden? Ich soll meinen Willen, meine Neigungen, meine Launen ihren
Bedürfnissen hingeben, um ihr Narr oder ihr Schlachtopfer zu sein!" -- Er
schwankt zwischen übersteigertem Selbstgefühl und vollständiger Mutlosigkeit, ver¬
flucht zuweilen Gott, und giebt sich unglaubliche Mühe, ein Ziel, ein Streben,
irgeud einen Neiz für das Leben zu finden; umsonst, sein Gemüth weigert sich,
irgend einer andern Leidenschaft Raum zu geben, als der Liebe. "Und welche
audere ist in der That im zwanzigsten^Jahre eines Mannes würdig?" -- Also
zwanzig Jahre!! -- So weit ist er ganz Werther; aber seine Liebe findet nicht
an einer einfachen Natur ihren Gegenstand, sondern, wie das dem französischen
Republikaner ziemt, an den feinen Manieren einer adeligen Dame. Diese Dame --


Grenzboten. I. 1851. 42

eine höchst unbequeme Seereise, wenn es zur Selbstmord geht. Dort erklimmen
sie einen Pie, um sich bei schönem Mondschein in den Wasserfall von Bernina
zu stürzen, den Schauplatz ihrer Kinderspiele. Sie springen mich, nachdem er
zu ihren Füßen seine glühende Liebe gestanden, sie springen — aber sie fallen
nicht. Es geschieht ein Mirakel; sie leben noch heute wie Täubchen in stiller
Zurückgezogenheit in ihrem Eldorado am Wasserfall zu Bernina, wie Bernardin'ö
Paria in der indischen Hütte, wie Heinse's Ardinghello in dem idyllischen Piraten¬
leben auf den glückseligen Inseln. Sie gründen ihre ideale Welt, indem sie
der wirklichen »Welt entfliehen — nicht zur Buße ihrer Schuld, sondern in dem
Dünkel, die Welt sei zu schlecht für ihr naives und tiefbewegtes Herz.

Ein ebenso sentimentaler als unsittlicher Schluß. — Wenn trotzdem die
Jndiane vou vielen Verehrern der Dichterin für das beste ihrer Werke gehalten
wird, so liegt das theils in der leidenschaftlichen und doch graziösen Darstellung,
hauptsächlich aber darin, daß die umgekehrte Weltordnung, welche die neue Poesie
eröffnet, in diesem Roman am wenigsten durch anderweitige Züge verwischt wird,
welche nicht ans der Tendenz hervorgehen. Je einfacher und roher das Evan¬
gelium, ein desto erquicklicherer Trank für die durstigen Seelen, die sich nach
ihm sehnen.

Es ist das anch der Grund, warum ich mich bei dieser ersten Tendenz¬
geschichte so lauge aufgehalten habe. Ich gehe nun zur Valeutine über.

Benedict, der eigentliche Held, ist ans einer Bauernfamilie hervorgegangen,
hat aber die moderne Bildung in sich ausgenommen; er hat allerlei getrieben,
aber keine gründliche Kenntniß in irgend einem Fach gewonnen. Er ist ein
hochmüthiger Nichtsthuer, der sich vou eiuer reichen Bauernfamilie erhalten läßt,
die Pflicht der Dankbarkeit gegen dieselbe aber nur als Qual empfindet; denn
er kann seine Ironie über ihre lächerlichen Manieren nicht unterdrücken. Er
empfindet eine souveräne Verachtung gegen die Thätigkeit der civilisirten Welt:
„ — bei dem jetzigen Zustand der Gesellschaft wäre das beste Ergebniß der
Erziehung, die mau uns giebt, das, freiwillig in den Zustand der Wildheit
zurückzukehren... In dieser bis an die Wurzel vermoderten Civilisation soll ich
Bürger werden? Ich soll meinen Willen, meine Neigungen, meine Launen ihren
Bedürfnissen hingeben, um ihr Narr oder ihr Schlachtopfer zu sein!" — Er
schwankt zwischen übersteigertem Selbstgefühl und vollständiger Mutlosigkeit, ver¬
flucht zuweilen Gott, und giebt sich unglaubliche Mühe, ein Ziel, ein Streben,
irgeud einen Neiz für das Leben zu finden; umsonst, sein Gemüth weigert sich,
irgend einer andern Leidenschaft Raum zu geben, als der Liebe. „Und welche
audere ist in der That im zwanzigsten^Jahre eines Mannes würdig?" — Also
zwanzig Jahre!! — So weit ist er ganz Werther; aber seine Liebe findet nicht
an einer einfachen Natur ihren Gegenstand, sondern, wie das dem französischen
Republikaner ziemt, an den feinen Manieren einer adeligen Dame. Diese Dame —


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/341>, abgerufen am 28.06.2024.