Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.Ein anderer Gegensatz ist in dem tief empfindenden, tief denkenden Jüng¬ Der Grundgedanke, der überall durchdringt, aber nie mit dogmatischer Prä- In dem zweiten Romane: Jndiane (1832) überwiegt die Tendenz die Die Unsittlichkeit ist vielmehr geistig zu fassen; sie liegt darin, daß das Ein anderer Gegensatz ist in dem tief empfindenden, tief denkenden Jüng¬ Der Grundgedanke, der überall durchdringt, aber nie mit dogmatischer Prä- In dem zweiten Romane: Jndiane (1832) überwiegt die Tendenz die Die Unsittlichkeit ist vielmehr geistig zu fassen; sie liegt darin, daß das <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0337" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/92075"/> <p xml:id="ID_1045"> Ein anderer Gegensatz ist in dem tief empfindenden, tief denkenden Jüng¬<lb/> ling ohne Charakterfestigkeit dargestellt, der sich vor dem gesunden Verstand und<lb/> selbst vor dem natürlichen Gefühl eines unbedeutenden und sittenlosen Menschen<lb/> klein fühlt, weil er sein eigenes Wesen durch Reflexion so unterwühlt hat, daß er<lb/> sich nirgends mit Sicherheit bewegt. — Wir werden diesem modernen Hamlet<lb/> (in unserm Werk heißt er Horace Cazalös) fast in allen späteren Werken be¬<lb/> gegnen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1046"> Der Grundgedanke, der überall durchdringt, aber nie mit dogmatischer Prä-<lb/> tension die frische Farbe der Fabel unterbricht, ist dieser, daß ein unbefangener<lb/> natürlicher Sinn selbst in seiner Verirrung höher steht, als der erkünstelte<lb/> Idealismus der Gesellschaft, als der träumerische Idealismus eiuer raffinirten<lb/> Reflexion. —</p><lb/> <p xml:id="ID_1047"> In dem zweiten Romane: Jndiane (1832) überwiegt die Tendenz die<lb/> Fabel schon ans eine sehr beleidigende Weise. Iudiane ist ein im höchsten Grade<lb/> unsittliches Buch: nicht darum, weil es sehr bedenkliche Dinge berührt, deun das<lb/> wird in der neuen Zeit, wo die Poesie ins Tiefe gehen will, schwer zu vermeiden<lb/> sein, und nicht alle belletristischen Schriften können nach dem Bedürfniß höherer<lb/> Töchterschulen zugeschnitten werden. Es ist dies Eingehen auf die Nachtseite der<lb/> menschlichen Natur vom ästhetischen Standpunkte nnr dann zu verwerfen, wenn<lb/> es ans dem Bedürfniß des sinnlichen Kitzels hervorgeht und mit sinnlichen Mitteln<lb/> unterstützt wird, wie in deu bekannten lüsternen Novellen oder in den Schander-<lb/> geschichten Sue's und SonM'ö. Beides dient der Wollust und fällt außerhalb<lb/> des Gebietes der Kunst. Das ist bei Georges Sand nie der Fall; man<lb/> hat ihr das schreiendste Unrecht gethan, wenn man ihre Werke mit jenen Novellen<lb/> in Eine Reihe gestellt hat. Freilich behandelt sie in allen ihren Schriften, wie das<lb/> von einer weiblichen Schriftstellerin nicht anders zu erwarten ist, hauptsächlich das<lb/> Verhältniß des Weibes zum Mann, und da dieses zuletzt doch immer auf ge¬<lb/> schlechtliche Beziehungen zurückführen muß, so wäre die Anwendung des neu¬<lb/> christlichen Feigenblattes ein unbilliges Verlangen. Aber ans welche Gebiete sie<lb/> das auch führt, und wie warm und leidenschaftlich anch die Darstellung werdeu<lb/> mag, es ist nie von einem physischen Sinnenkitzel die Rede, sondern von einem<lb/> sittlichen Problem, das sich in einer bestimmten Erscheinung individualisirt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1048" next="#ID_1049"> Die Unsittlichkeit ist vielmehr geistig zu fassen; sie liegt darin, daß das<lb/> Nachdenken über diese sittlichen Probleme auf halbem Wege stehen bleibt. —<lb/> Georges Saud hat bei der Indiana das geheime Bedenken gehabt, ob es auch<lb/> mit der Moral derselben recht richtig sei; gerade wegen dieser Bedenken verwahrt<lb/> sie sich in der Vorrede sehr entschieden gegen den Verdacht einer unsittlichen<lb/> Tendenz, und setzt hinzu: „Der Verfasser fühlt sich nicht verpflichtet, die Gesell¬<lb/> schaft als eine tugendhafte darzustellen, souderu als eine nothwendige; er zeigt,<lb/> daß in deu Tagen moralischen Verfalls die Ehre ein Heroismus ist. Diese</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0337]
Ein anderer Gegensatz ist in dem tief empfindenden, tief denkenden Jüng¬
ling ohne Charakterfestigkeit dargestellt, der sich vor dem gesunden Verstand und
selbst vor dem natürlichen Gefühl eines unbedeutenden und sittenlosen Menschen
klein fühlt, weil er sein eigenes Wesen durch Reflexion so unterwühlt hat, daß er
sich nirgends mit Sicherheit bewegt. — Wir werden diesem modernen Hamlet
(in unserm Werk heißt er Horace Cazalös) fast in allen späteren Werken be¬
gegnen.
Der Grundgedanke, der überall durchdringt, aber nie mit dogmatischer Prä-
tension die frische Farbe der Fabel unterbricht, ist dieser, daß ein unbefangener
natürlicher Sinn selbst in seiner Verirrung höher steht, als der erkünstelte
Idealismus der Gesellschaft, als der träumerische Idealismus eiuer raffinirten
Reflexion. —
In dem zweiten Romane: Jndiane (1832) überwiegt die Tendenz die
Fabel schon ans eine sehr beleidigende Weise. Iudiane ist ein im höchsten Grade
unsittliches Buch: nicht darum, weil es sehr bedenkliche Dinge berührt, deun das
wird in der neuen Zeit, wo die Poesie ins Tiefe gehen will, schwer zu vermeiden
sein, und nicht alle belletristischen Schriften können nach dem Bedürfniß höherer
Töchterschulen zugeschnitten werden. Es ist dies Eingehen auf die Nachtseite der
menschlichen Natur vom ästhetischen Standpunkte nnr dann zu verwerfen, wenn
es ans dem Bedürfniß des sinnlichen Kitzels hervorgeht und mit sinnlichen Mitteln
unterstützt wird, wie in deu bekannten lüsternen Novellen oder in den Schander-
geschichten Sue's und SonM'ö. Beides dient der Wollust und fällt außerhalb
des Gebietes der Kunst. Das ist bei Georges Sand nie der Fall; man
hat ihr das schreiendste Unrecht gethan, wenn man ihre Werke mit jenen Novellen
in Eine Reihe gestellt hat. Freilich behandelt sie in allen ihren Schriften, wie das
von einer weiblichen Schriftstellerin nicht anders zu erwarten ist, hauptsächlich das
Verhältniß des Weibes zum Mann, und da dieses zuletzt doch immer auf ge¬
schlechtliche Beziehungen zurückführen muß, so wäre die Anwendung des neu¬
christlichen Feigenblattes ein unbilliges Verlangen. Aber ans welche Gebiete sie
das auch führt, und wie warm und leidenschaftlich anch die Darstellung werdeu
mag, es ist nie von einem physischen Sinnenkitzel die Rede, sondern von einem
sittlichen Problem, das sich in einer bestimmten Erscheinung individualisirt.
Die Unsittlichkeit ist vielmehr geistig zu fassen; sie liegt darin, daß das
Nachdenken über diese sittlichen Probleme auf halbem Wege stehen bleibt. —
Georges Saud hat bei der Indiana das geheime Bedenken gehabt, ob es auch
mit der Moral derselben recht richtig sei; gerade wegen dieser Bedenken verwahrt
sie sich in der Vorrede sehr entschieden gegen den Verdacht einer unsittlichen
Tendenz, und setzt hinzu: „Der Verfasser fühlt sich nicht verpflichtet, die Gesell¬
schaft als eine tugendhafte darzustellen, souderu als eine nothwendige; er zeigt,
daß in deu Tagen moralischen Verfalls die Ehre ein Heroismus ist. Diese
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